Editorial

Autor/innen

  • Gregor Busslinger

DOI:

https://doi.org/10.18754/jfp.47.1

Abstract

Die Idee zu einem Heft mit dem Schwerpunkt Ethnopsychoanalyse ist schon zur Zeit der Neulancierung des Journals beim Psychosozialverlag entstanden, damals als das Konzept von Schwerpunktheften aufkam und wir uns überlegten, was denn eigentlich all das Spezifische des PSZ ausmacht. Wir besannen uns auf die Gründergeneration und stiessen, wen wunderts, auf das Dreiergespann Goldy Parin-Matthèy, Paul Parin und Fritz Morgenthaler, welches die Ethnopsychoanalyse entwickelte. Wann wir uns des – aus dieser Sicht dem PSZ ureigenem – Themas annehmen würden, war offen. Klar war uns lediglich, dass wir nicht eine Aufsatzsammlung zusammenstellen wollten, die sich nahtlos in eine Reihe von vielen, wenn auch interessanten Publikationen mit diesem Schwerpunkt einordnen würde. Wir wollten nicht offene Türen einrennen und schon gar nicht eine Festschrift herausgeben. Nach heftigen Debatten innerhalb des Redaktionskollektivs darüber, was denn Ethnopsychoanalyse eigentlich sei und welche Relevanz sie aktuell habe, einigten wir uns darauf, sie für unser Schwerpunktheft als Erkenntnismethode zu begreifen, die auf verschiedenste Fragestellungen angewandt werden kann. Sei es, um im Rahmen einer Feldforschung fremde Ethnien in weit entfernten Weltgegenden oder Fasnachtsrituale in der Innerschweiz verstehen zu lernen, sei es, um den vielschichtigen Konflikten in unserer globalisiert-multikulturellen Gesellschaft oder um unseren Klienten in interkulturellen Therapiesettings gedanklich anders begegnen zu können oder sei es, um uns zu befähigen, das allzu Bekannte, Alltägliche mit dem fremden Blick anders einzuordnen – eine, wie könnte es anders sein, an sich sehr psychoanalytische Tätigkeit. Kurz: es geht uns darum, die aktuelle Relevanz der Ethnopsychoanalyse als Methode auszuleuchten.

Als Vorgabe zum Verfassen eines Artikels in diesem Heft haben wir gewagt, Ethnopsychoanalyse folgendermassen zu definieren: Es handelt sich um eine (sozial-)wissenschaftliche Methode, die nebst theoretischen Kenntnissen in beiden Disziplinen eine persönliche Analyse und Felderfahrung voraussetzt und die im Sinne der qualitativen Sozialforschung mit empirischem Material und Einzelfallstudien arbeitet.

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Paul Parin feiert in diesem Jahr den 90. Geburtstag. Ihm ist dieses Heft gewidmet. Das von Claudio Raveane auf Grundlage einer Fotografie von Isolde Ohlbaum (München) gestaltete Titelbild steht für seine im Verbund mit Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler vorwärts getriebenen Afrikaforschungen, sozusagen als Symbol für die Wurzel der Ethnopsychoanalyse, welche mit diesen Forschungen Gestalt annahm.

Die Fotografie von Christian Lanz (Zürich), die dem Interview von Emilio Modena mit Paul Parin den Bildrahmen gibt, vermittelt einen Eindruck des unverändert wachen Geistes des 90-jährigen Mitbegründers der Ethnopsychoanalyse, wie er einem in eben diesem Interview begegnet. Es ist, wie wenn er an unseren Redaktionssitzungen teilgenommen hätte, wenn er im Interview sagt: „Man muss die Ethnopsychoanalyse sehr intensiv auf heutige soziale und politische Erscheinungen anwenden. Sonst wird man die Menschen nicht verstehen.“ Und er präzisiert: „Vor 20 Jahren hatte ich noch gedacht, die Freudschen Psychoanalyse habe schon alles geleistet, was sie leisten könne und werde einfach wieder vergessen werden. Heute nicht mehr. Der wichtigsten Ansatz, den wir geliefert haben, ist wohl der, dass wir die Ethnopsychoanalyse nicht nur bei den exotischen Ethnien, sondern auch auf unsere eigenen sozialen Verhältnisse angewandt haben. Das wird auch in Zukunft notwendig bleiben.....“ Es sind aber nicht nur diese aktuellen Bezüge, die das Interview zu einem Lesegenuss machen, sondern es ist insbesondere der wunderbare zeitliche Bogen, den er von seinen beruflichen Anfängen und den Afrikaforschungen bis in die heutigen Tage spannt. Dabei fehlen weder Stellungsnahmen zu aktueller Kritik an seiner Art von Ethnopsychoanalyse, noch mangelt es an pointierten Einschätzungen der verschiedenen psychoanalytischen Schulen. Was leider fehlt, ist die geplante Würdigung von Paul Parins Werk durch Maya Nadig. Krankheitshalber musste sie diese absagen.

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Der Aufbau dieses Heftes folgt der Logik der Bewegung vom Fremden zum Eigenen. Die ersten drei Aufsätze befassen sich mit Entwicklungen in Afrika. Stephan Steiner beleuchtet in seinem Beitrag die historische Entwicklung einer der wohl beunruhigendsten Zeiterscheinungen: die verschiedenen Etappen des Völkermordes in Ruanda. Beunruhigend u.a., weil sich derart Ungeheuerliches im Schatten der Weltöffentlichkeit, weitab vom Klamauk der Medien und der kritischen Auseinandersetzung der Intelligenz abspielte. Markus Weilenmann, der über langjährige profunde Forschungserfahrung in der Region verfügt (siehe Buchbesprechung im Forumsteil), bezieht sich kritisch auf Steiners Thesen und versucht aus ethnopsychoanalytischer und rechtsethnologischer Perspektive der Pervertierung kulturspezifischer Zuordnung Sinn abzugewinnen und Verständnis in das Unfassbare der physischen und psychischen Entgrenzung zu bringen. Gerhard Kubik`s Betrachtungen über das „Tabu“ stehen für eine eher klassische ethnologische und ethnopychoanalytische Forschung - nicht nur in Afrika. Ausgehend von seiner Lektüre von Freuds „Totem und Tabu“ in jungen Jahren, gibt er einen umfassenden Einblick in seine Beschäftigung mit dem Thema seit 1965 in Angola bis 2004 in Malawi.

Die darauf folgenden Artikel beschäftigen sich mit unterschiedlichen sub- und interkulturellen Kontexten bei uns. Heidi Schär-Sall und Peter Burschter berichten aus ihrer in vielerlei Hinsicht schmerzlichen Praxis im Ethnologisch-Psychologischen Zentrum der Asyl-Organisation Zürich. Sie stellen nicht nur auf eine anschauliche Art ihre ethnopsychoanalytische Arbeit mit Flüchtlingen unterschiedlicher Nationen dar, ihr Ringen um Verständnis für Menschen, die in allen anderen Institutionen „untragbar“ geworden sind, sondern sie berichten auch vom Aufstieg und Fall des Zentrums und geben uns damit einen verfremdeten Einblick in kulturelle Gepflogenheiten unseres Sozialwesens und damit in unsere aktuelle gesellschaftliche Verfassung. Dagmar Ambass setzt sich aus Lacanscher Sicht mit einer Müttergruppe aus Kosovo auseinander. Durch ihren spezifischen Umgang mit dem „kulturellen Material“ löste sie in unserer Redaktionsgruppe einiges Befremden aus. Der Eindruck der Verflüchtigung des Kulturellen kam auf. Unser Befremden schien uns allerdings gut zur Idee dieses Heftes zu passen, unterschiedliche Auslegungen von Ethnopsychoanalyse als Methode zur Sprache zu bringen.

Die letzten zwei Beiträge beleuchten Prozesse der Unbewusstmachung, resp. das Auftauchen von Befremden in einheimischen kulturellen Kontexten. Silvia Heizmann beschreibt ihre Erfahrung in einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum als arbeitslose Ethnologin unter Berücksichtigung des Gegen-Übertragungsgeschehens, in welches sie ungewollt und zwangsläufig involviert wurde. Zu guter Letzt leuchtet Franziska Lang anhand semistrukturierter Gespräche unterschiedliche Umgangsarten mit formeller und informeller Struktur innerhalb einer Gruppe von Frauen aus, welche in den 90er Jahren einen Verein zum Zwecke der „Ausbildungs- und Laufbahnberatung“ gegründet hatten. Sie versucht mit Hilfe der ethnopsychoanalytischen Methode zu verstehen, wie es nach einigen prosperierenden Jahren zur Auflösung des Vereines kam.

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Veröffentlicht

2006-12-01

Zitationsvorschlag

Busslinger, G. (2006). Editorial. Journal für Psychoanalyse, (47). https://doi.org/10.18754/jfp.47.1