Editorial

Autor/innen

  • Gregor Busslinger

DOI:

https://doi.org/10.18754/jfp.51.1

Abstract

Liebe Leserin, lieber Leser

Nachdem der Verein für psychoanalytische Sozialarbeit (vpsz) 2001 von einigen aktiven Mitgliedern des PSZ gegründet wurde, entwickelte er in den letzten Jahren eine Reihe von Aktivitäten in unseren Seminarräumen an der Quellenstrasse. Nicht nur damit bringt der vpsz eine enge Verbundenheit mit dem PSZ zum Ausdruck, sondern auch mit seiner inhaltlichen Auseinandersetzung, geht es doch dabei wesentlich darum, gesellschaftliche und individuelle psychische Konflikthaftigkeit in einen Zusammenhang zu bringen, der Dynamik der Widersprüchlichkeit auf beiden Ebenen Rechnung zu tragen. Die psychoanalytische Sozialarbeit beschäftigt sich mit Menschen, die gar nicht anders können, als ihre inneren Konflikte im Sozialen zu organisieren.

Wir von der Redaktionsgruppe des Journals für Psychoanalyse finden die Veranstaltungen des vpsz sehr spannend und würdig, mit diesem Heft in einen grösseren Rahmen gestellt zu werden. Die Optik auf die Dynamik der oft sehr verzweifelten Menschen, mit denen es die psychoanalytischen SozialarbeiterInnen zu tun haben, ist sehr aufschlussreich für all jene, die ihren PatientInnen im Rahmen eines «gesicherten» Settings einer Privatpraxis begegnen. In diversen Artikeln dieses Heftes wird gerade der Konstruktion eines für die psychoanalytische Sozialarbeit spezifischen Settings grosses Gewicht beigemessen; eine Auseinandersetzung, die für den Umgang mit sogenannt «sozialpsychiatrischen» PatientInnen voller fruchtbarer Anregungen ist.

Die ersten beiden Artikel gehen auf die historische Dimension ein. Achim Perner wirft einen facettenreichen Blick zurück auf die Pionierjahre der Psychoanalyse und skizziert von da aus verschiedene Entwicklungslinien der psychoanalytischen Sozialarbeit, um sich am Schluss ausführlicher mit der Ausprägung derselben in der BRD seit den späten 70er Jahren bis heute zu befassen.

Esther Leuthard beschreibt als eines der Gründungsmitglieder die Entstehung und Entwicklung des vpsz aus einer persönlichen Perspektive. Im Zentrum ihrer Ausführungen steht die sozialpädagogische Familienbegleitung, die daraus entstandenen Projekte und die Vernetzung mit verwandten Institutionen, die sich darüber ergeben hat. Dabei wird deutlich, welche Bedeutung die Entwicklung der psychoanalytische Sozialarbeit in Deutschland für den vpsz hat.

Nach dieser historischen Einbettung folgen drei Artikel von Mitgliedern des «Vereins für psychoanalytische Sozialarbeit Tübingen», welcher die psychoanalytische Sozialarbeit in Deutschland wesentlich prägt. Sie geben Einblick in die Entwicklung ihrer theoretischen Konzepte und in die Umsetzung derselben in die Praxis.

Martin Feuling führt in seinem Beitrag «Angst – Wissen und NichtWissen. Settingkonstruktionen in der psychoanalytischen Sozialarbeit» aus, wie er ausgehend von Lacanianischen Konzepten und Begriffen, die Dimension des Mangels bei autistisch und psychotisch strukturierten Jugendlichen begreift und über eine hochspezifische Settingkonstruktion dieser Dynamik gerecht zu werden versucht. Bei dieser Settingkonstruktion stellt er das Wartezimmer mit seiner Struktur und Funktion als einen paradigmatischen Ort dar. In seinen zwei sehr anschaulichen Fallbeispielen stellt er die Ängste, die in der analytischen Beziehung mobilisiert werden, ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit.

Achim Perner, der Verfasser des historischen Artikels zur psychoanalytischen Sozialarbeit in diesem Heft, zeigt in einem mit Fallvignetten gespickten Artikel die wesentlichen Unterschiede zwischen psychoanalytischer Sozialarbeit und Psychoanalyse auf. Ausgehend von Überlegungen zur Indikation für Psychoanalytische Sozialarbeit («Sie ist immer dann indiziert, wenn alles andere nicht mehr hilft»), schält er die Unterschiede in der Handhabung der Übertragung, der Abstinenz und der Deutungsarbeit sowie in der Gestaltung des Settings als Konstruktionsprozess heraus.

Mit seinem Beitrag «Jahre mit Werner» verdeutlicht Joachim Staigle am Beispiel der langjährigen Betreuung eines Jugendlichen mit psychotischen Ängsten
– der durch eine autistische und konfusionelle Abwehrstrukturen imponiert – entlang desVerständnissesderVorgeschichte,derSchilderungdesErstgesprächesund der Auswertung der ersten Beziehungserfahrungen in analytischen Supervisionen eine typische Vorgehensund Denkweise innerhalb der psychoanalytischen Sozialarbeit. Dabei zeigt er die zentrale Rolle der Supervision im Setting auf. Ebenso beschreibt er über ausgewählte Betreuungsaspekte den Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung in der vorwiegend durch Handlung gekennzeichneten psychoanalytischen Sozialarbeit.

Nach diesen Tübinger Beiträgen werden verschiedene Aspekte der psychoanalytischen Sozialarbeit, wie sie sich in Zürich entwickelt hat, ausgeleuchtet.

Heini Bader, Gründungsmitglied des vpsz, stellt anhand von Fallvignetten aus einer langjährigen Geldverwaltung dar, wie im traditionellen Feld von Sozialarbeit Elemente psychoanalytischenVerstehensAnwendungfinden können.Dabeikommen die verschiedenen triangulierenden Aspekte der Geldverwaltung zur Sprache.

In «Niemand hat mich gern» schildert Esther Leuthards zweiter Artikel in diesem Heft die Geschichte einer sozialpädagogischen Familienbegleitung. Die Falldarstellung handelt von der Geschichte verzweifelter Eltern sowie eines ebenso verzweifelten Mädchens, das nicht verstanden wird. Sie zeigt auf, wie sie selber in dieser Geschichte über ihre Begleitung im Alltag zum triangulierenden Objekt wird. Erst durch die Übersetzung der Handlungen in Sprache kann sukzessive erreicht werden, dass das Mädchen selber zur Sprache findet und ihre Gefühle nicht mehr destruktiv ausagieren muss.

«Von Pflastern und Pflanzen» handelt der Beitrag von Antje Krueger aus Bremen. Sie berichtet von der Feldforschung im Rahmen ihrer Dissertation als Ethnopsychoanalytikerin am EthnologischPsychologischen Zentrum in Zürich1. Sie stellt die spezifische Konzeption psychoanalytischer Sozialarbeit im Umgang mit psychisch und sozial schwer belasteten Asylsuchende in einem komplexen interkulturellen Kontext vor. Der Fokus liegt dabei auf der alltäglichen Praxis des stationären Betreuungsangebotes des EPZ, die mit Hilfe von Interviewausschnitten und Feldforschungsnotizen empirisch belegt und illustriert wird.
Als Ergänzung und Erweiterung zu den Tübinger und Zürcher Beiträgen folgen je ein Artikel aus Österreich und Frankreich.

Elisabeth Rosenmayr aus Linz skizziert in «Damit Freiheit nisten kann», wie psychoanalytische Sozialarbeit im Verein EXITsozial realisiert wird. Der Verein gründet ausgehend von der AntiPsychiatrieBewegung der 60er Jahre in der demokratischen Psychiatrie. Dazu beschreibt sie das Selbstverständnis des Vereins und dessen Situation im gesellschaftlichen und politischen Kontext. Sie hinterfragt die Bedeutung der psychoanalytischen Sozialarbeit und berichtet von ihrer Umsetzung.

Mit MarieHélène Malandrin wird der Reigen abgeschlossen. Sie stellt eine französische Spielart von psychoanalytischer Sozialarbeit dar. Der von Dagmar Ambass aus dem Französischen ins Deutsche übersetzten Text «Empfangen, zuhören, hören. Das kleine Kind in der Maison Verte» beschreibt einen spezifischen Begegnungsort für Eltern und Kinder. Die Gründung des «Maison Verte» unter der Federführung von Françoise Dolto fällt in die Zeit der 70er Jahre, als aufgrund von Migration die Einbindung in den erweiterten Familienverband zunehmend wegfiel und als viele Mütter mit ihren Kindern in den eigenen vier Wänden ziemlich isoliert waren. Die Autorin schildert anhand von drei Sequenzen von Kleinkindern, wie über den Umgang mit dem äusseren Raum, der durch das spezifische Beziehungsangebot im «Maison Verte» strukturiert wird, sich für die die Kinder begleitenden Eltern, resp. Mütter Einsicht in die innere Dynamik und die Beziehungsgestaltung entwickeln kann.

Zum Schluss kommen im Interview drei verschiedene Perspektiven zum Themenschwerpunkt miteinander in Berührung. Martin Feuling steht für die lange und konsolidierte Tübinger Tradition, Heidi Schär Sall betont als Leiterin des ehemaligen EthnologischPsychologischen Zentrums die ethnologische Dimension und Ursula Leuthard steht nicht nur für die aktuelle Entwicklung des vpsz, sondern auch für ein uraltes, schon beinahe vergessenes Anliegen des PSZ, nämlich für die Laienanalyse.

Im Forum informiert uns Dagmar Ambass über «Die Fadenspule», einen psychoanalytisch orientierten Begegnungsraum für Kleinkinder und ihre Eltern, der in Anlehnung an das von Malandrin in diesem Heft beschriebene «Maison Verte» neulich in Zürich eröffnete wurde.

Die 2. Preisverleihung von «Missing Link» dokumentieren wir mit der Laudatio von Sønke Gau. Ihr folgen die Dankesworte des Preisträgers Gregor Schmoll. Nach diversen Buchbesprechungen und Tagungsberichten stellt Johannes Reichmayr das «Studio und Archiv Paul Parin» an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien vor. Um den Ort gebührend zu würdigen, haben wir uns entschlossen, dazu auch einen optischen Eindruck zu vermitteln. Den Abschluss machen neben einer Tagungsankündigung zwei Nachrufe: einer auf Ilka von Zeppelin und einer auf Franziska Lang.

Gregor Busslinger

In eigener Sache
Emilio Modena, auf dessen Intitiative die Neulancierung des «Journals für Psychoanalyse» 2003 erst im «PsychosozialVerlag» und dann ab 2007 im «Seismo Verlag» möglich wurde, wird die Journalredaktion leider verlassen. Wir möchten ihm für seine unermüdliches Engagement, ohne welches das Heft in dieser Form wohl kaum entstanden wäre, ganz herzlich danken. Ein weiterer Dank gilt Gregor Busslinger, der die Redaktion ebenfalls verlassen wird und sich mit diesem Heft verabschiedet. Von der «Jungen Psychoanalyse» sind mit Julia Braun und Lutz Wittmann erfreulicherweise zwei engagierte neue Redaktionsmitglieder zu uns gestossen.

Die Journalredaktion

Anmerkung
1 Das EPZ existierte bis Mitte 2005. Zur Wegrationalisierung des EPZ vgl. Schär Sall und Burtscher (2006): Ethnopsychoanalyse im EthnologischPsychologischen Zentrum (EPZ) der AsylOrganisation Zürich. Ein ethnopsychologischer Selbstversuch im Journal für Psychoanalyse, 47: 67–85.
Journal für Psychoanalyse 51

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Veröffentlicht

2010-12-01

Zitationsvorschlag

Busslinger, G. (2010). Editorial. Journal für Psychoanalyse, (51), 5–8. https://doi.org/10.18754/jfp.51.1

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Editorial