Editorial

Autor/innen

  • Dragica Stojkovic

DOI:

https://doi.org/10.18754/jfp.54.1

Abstract

Liebe Leserin, lieber Leser

Der Transfer von Informationen wird immer mobiler – man denke nur an das Internet und Smartphones und damit an E-Mails, Facebook, Twitter, Skype und Co, die unsere alltägliche Kommunikation revolutioniert haben. Doch nicht nur Informationen, sondern auch Personen wird Mobilität als Attribut zugesprochen. Menschen wechseln ihren Lebens- oder Arbeitsort, ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, einer Glaubensgemeinde und manchmal wechseln sie sogar ihr biologisches Geschlecht. 

Der Psychoanalyse sind – einem kollektiven Gedächtnis gleichsam – unzählige Einzelfälle bekannt, die über ihre Orts-, Familien-, berufliche oder soziale Wechsel erzählten und daraus resultierend Lust und Leid zur Darstellung brachten. Auch die Entstehung der Psychoanalyse war durch Mobilität gekennzeichnet: Nicht nur an ihrer Seele Leidende nahmen für eine Analyse bei Freud weite Strecken und längere Zeit fern von ihrer Heimat auf sich, sondern auch angehende Analytiker reisten weit und nicht selten vollzogen sich ihre Analysen in einer anderen als ihrer Muttersprache. Ein trauriges Kapitel der psychoanalytischen Geschichte sind jene, unter ihnen Freud, die im zweiten Weltkrieg emigrieren mussten. 

Inzwischen hat sich die psychoanalytische Gesellschaft in dieser Hinsicht gewandelt: Sesshaftigkeit wird Formen örtlicher Mobilität (die mit virtueller Kommunikation einhergeht) deutlich vorgezogen. Auch Analytiker schreiben Mails. Oft besitzen sie ein Smartphone, in wenigen Fällen haben sie ein Facebook-Profil. Manchmal reisen sie an Kongresse (meist aber gibt es bereits in ihrer Nähe ein überfülltes Vortragsangebot – sich überschneidende Veranstaltungen inklusive). Doch gehören Analytiker trotz all dieser Modernität durch die lang dauernden Analysen zu den sesshafteren Berufsgruppen. 

Inwiefern ist Mobilität nichtsdestotrotz für die Psychoanalyse von Relevanz? Der Beweglichkeit psychischer Besetzungen, maligne wirkender Fixierungen und Abwehrmechanismen – also: geistiger Mobilität – kommt ein hoher Stellenwert zu. Denkt man aber an Formen der Mobilität, die Handlungen im lebenspraktischen Alltag erfordern, wird man nicht umhinkommen anzuerkennen, dass Mobilität den praktizierenden Analytiker mit ambivalenten Gefühlen konfrontiert: Wird er um E-Mailtherapie oder Supervision per Skype gebeten, hält sich seine Begeisterung meist in Grenzen. Möchte einer seiner Analysanden im Rahmen seines Studiums an einem Mobilitätsprogramm teilnehmen, muss die Analyse – im besten Fall – für eine längere Dauer sistiert werden. Erhält eine Analysandin eine neue Stelle in einem anderen Kanton, so dass sie für die Sitzungen längere Zugfahrten auf sich nehmen muss, wird die Frage nach der Therapiemotivation in Zeiten steigenden Widerstandes prekär. 

Die Psychoanalyse ist globalen Prozessen ausgesetzt, das steht ausser Frage. Es ist deswegen notwendig, das globale Geschehen zu reflektieren und daraufhin zu befragen, welche Bedeutung die technischen Fortschritte für die analytische Praxis, die Identität von Analytiker und Analysand sowie die Kultur, in der sie leben, haben. Die vorliegende Journal-Ausgabe leistet einige Beiträge dazu.

Wie sich die heutigen technischen Möglichkeiten und daraus resultierende Beschleunigungsprozesse des Alltags in der psychoanalytischen Praxis zeigen, wird von Benigna Gerisch thematisiert. Dabei werden Auswirkungen der Zeitnot und der Hast, in der so viele Individuen heute ihrem Leben nachgehen, sowie Effekte des «Körperoptimierungs»-Kults differenziert und an Fallbeispielen angelehnt erarbeitet. Bereits die Festlegung eines Erstgesprächs entpuppt sich bei vielbeschäftigten Personen in Not oft als schwierig. Dies ist nur ein Beispiel der sich ergebenden Probleme, wenn versucht wird, den analytischen Raum in einer Welt zu erhalten, die technologisch so weit fortgeschritten ist, dass sie einer permanenten Verführung zum Agieren gleichkommt.

Dass nicht alle Psychoanalytiker dem technischen Fortschritt gleich skeptisch begegnen, zeigt Olaf Knellessen und Jan van Lohs virtueller Austausch. Ohne technikfeindliche Ressentiments führt ihr Dialog die Psychoanalyse immer wieder mit moderner Medialität zusammen. Keine abwegige Idee, schliesslich ist deren beider Kerngeschäft die Übertragung. Die Autoren sinnieren über mögliche Ursachen der ablehnenden Haltung gegenüber technischem Fortschritt, über Handys in der therapeutischen Sitzung, Internettherapie oder die Spezifika von Kommunikation und Liebe übers Netz. Dabei verbinden die Autoren in ihren Mails lockere, alltägliche Kommunikation mit Fachdiskussionen. Bei aller Begeisterung für Technologie wird jedoch deutlich, dass weder Knellessen noch van Loh das klassisch analytische Setting aufgeben würden. 

Barbara Zielkes hochdifferenzierter Beitrag geht der Frage nach, ob und inwiefern sich unter Berücksichtigung der heutigen Lebensumstände sowie theoretischer Weiterentwicklungen – allen voran das Primat der Intersubjektivität sowie die Kritik am Konzept eines kohärenten und überdauernden Selbst von philosophischer Seite – die Idee des Selbst transformieren und neu denken lässt. Sie vertritt dabei die Meinung, dass das Konzept des Selbst nicht gänzlich aufgegeben werden muss, wenn es bezüglich zweier Aspekte revidiert wird: (1) Ein Selbst wird massgebend von (sozialen, imaginären und virtuellen) Anderen mitbestimmt und (2) es ist durch die Unmöglichkeit, einen Abschluss, eine endgültige Form zu finden, definiert. Subjekte sind, wie anhand vieler theoretischer Bezüge dargelegt wird, ihr ganzes Leben lang «Biografiegeneratoren», die ohne Koautoren nicht schreiben könnten, und deren Selbst dadurch in stetem Wandel immer wieder neu entsteht. 

Während die ersten drei Artikel sich schwerpunktmässig mit den Auswirkungen technologischer und theoretischer Fortschritte auf psychoanalytische Konzepte und die psychoanalytische Arbeit auseinandersetzen, folgt anschliessend die Thematisierung einzelner Migrantenschicksale.

Emilio Modena verknüpft in seinem Beitrag Fallgeschichten mit der eigenen von Migration geprägten Biografie. Dadurch möchte er den Lesenden die Bedeutung von Globalisierung greifbar und erfahrungsnah vermitteln. Schwerpunktmässig befasst sich der Autor mit Auswirkungen der Globalisierung auf die Identität, insbesondere jener von Migranten, denen er doppelte, mehrfache oder diffuse Identitätszustände zuschreibt und mit Fallvignetten illustriert. Modenas Text mündet in die Frage, ob – durch die neuen Kommunikationstechnologien gefördert – eine «planetare Identität» entstehen könnte, die den Beitrag mit utopischem Nachhall ausklingen lässt. 

Basierend auf Konzepten Wilfried Bions und einem Essay Marcel Mauss’ zur mobilen Kultur der Inuit entwickelt Danielle Bazzi eine Kritik der Ideologie der Sesshaftigkeit. Sie geht in ihrem Beitrag der Bedeutung verschiedener Konzepte auf unser Verständnis und unsere Erfahrung von Mobilität nach und entwirft Letztere als einen grundlegenden psychischen Mechanismus, der zwischen den Polen «Bewegungslust» und «Fragmentierungsangst» oszilliert und damit nicht nur Migranten, sondern jedes Individuum in seinem Bezug zu Gruppen, zur Realität und dadurch auch zu sich selbst massgebend rhythmisiert. 

Anna Bally untersucht in ihrem Text die Bedeutung der Geschwister für Entwicklungsaufgaben von indonesischen Migrantinnen. Dies geschieht einerseits fallnah, andererseits bietet ihre Arbeit eine Einführung in psychoanalytische Geschwistertheorie (die nicht bei «realen» Geschwistern und beobachtbarer Realität halt macht), wodurch ersichtlich wird, wie viel dem psychoanalytischen Diskurs durch die Vernachlässigung der «lateralen Perspektive» entgeht. Überdies sind Ballys Text Einflussfaktoren zu entnehmen, die bei Migranten zum Ge- oder Misslingen beitragen, eine entwicklungsfördernde innere Repräsentation der eigenen Stellung in der sozialen Welt herzustellen.

Der Inhalt des Forums vervollständigt das Heft mit einem Veranstaltungs-hinweis sowie einer Rezension.

Mobilität – Identität – Kultur. Um diese Begriffe kreist die vorliegende Journal-Ausgabe. Die Journalredaktion hat sich im Laufe des vergangenen Jahres nicht nur im Rahmen der Lektüreprozesse mit der Thematik auseinandergesetzt: Innerhalb kurzer Zeit hat die Redaktion vier Mitglieder (Sonja Wuhrmann, Jacqueline Lüscher, Markus Weilenmann, Lutz Wittmann) verabschiedet und drei neue Mitglieder (Cornelia Meyer, Dragica Stojkovic, Eric Winkler) begrüsst. Wir bedanken uns bei jenen, die die Redaktion verlassen haben, für ihre engagierte Mitarbeit und möchten an dieser Stelle Lutz Wittmann herzlich zur erfolgreichen Habilitation gratulieren – alles Gute am neuen Arbeitsort an der «International Psychoanalytic University» in Berlin!

Eine anregende Lektüre wünscht
Dragica Stojkovic
für die Journal-Redaktion

Downloads

Keine Nutzungsdaten vorhanden.

Downloads

Veröffentlicht

2013-12-01

Zitationsvorschlag

Stojkovic, D. (2013). Editorial. Journal für Psychoanalyse, (54), 3–6. https://doi.org/10.18754/jfp.54.1

Ausgabe

Rubrik

Editorial