Editorial

Autor/innen

  • Sonja Wuhrmann
  • Julia Braun
  • Lutz Wittmann

DOI:

https://doi.org/10.18754/jfp.52.1

Abstract

Liebe Leserin, lieber Leser

Nicht nur das Schwerpunktthema dieser Ausgabe, sondern das gesamte vorliegende Heft widmet sich der Mentalisierungstheorie und der daraus entstandenen Mentalisierungsgestützten Psychotherapie (MBT), wie sie von der Londoner Gruppe um Bateman, Fonagy und Target postuliert wird. Das Thema ist in aller Munde und wird kontrovers und heftig diskutiert. Die Einen verbinden damit grosse Hoffnungen, dass die Psychoanalyse endlich Anschluss an die Wissenschaft findet, lästigen Ballast abwirft, und zu einem lehr- und lernbaren Handwerk wird. Die Anderen lehnen das Konzept ab, weil ihnen all das verloren zu gehen droht, was die Psychoanalyse für sie ausmacht. Sie sorgen sich um die ihnen wertvollen Konzepte der Übertragung, des Unbewussten oder der Triebtheorie und befürchten eine Reduktion der Psychoanalyse auf ein Training bestimmter mentaler Fertigkeiten.

Zum ersten Mal ist der Schwerpunkt des Journals als Debatte gestaltet, weil wir überzeugt sind, die beschriebene Ambivalenz so am ehesten abbilden zu können. Für einen einleitenden Grundlagenartikel konnten wir mit den Psychoanalytikern und Gruppenanalytikern Ulrich Schultz-Venrath und Peter Döring führende Vertreter der Mentalisierungebewegung in Deutschland gewinnen. Dieser Grundlagenartikel wird dann von drei ausführlichen Kommentaren beleuchtet, um das Neue oder das Alte, das Ergänzende oder das Vernachlässigende des Mentalisierungskonzeptes in der Psychoanalyse herauszuarbeiten. Hierfür konnten wir die langjährigen PSZ-Teilnehmenden Anita Garstik-Straumann, Eric Winkler und Martin Kuster gewinnen. Eine Stellungnahme der beiden Verfasser des Grundlagenartikels zu den Kommentaren rundet die Debatte ab.

Auch die nachfolgenden Artikel beschäftigen sich mit der Mentalisierung. Hier war der Redaktion das Eingehen auf unterschiedliche Facetten des Themas wichtig. So erhält die Anwendung des Mentalisierungsmodells bei Kindern und Erwachsenen ebenso Raum wie die Erörterung seiner philosophischen und wissenschaftlichen Ebene. Fernanda Pedrina schildert uns einen bewegenden therapeutischen Prozess, aus dem bei einem Jungen trotz Abbruch der Therapie der Beginn einer Mentalisierungsfähigkeit und damit ein Entwicklungsschritt ersichtlich wird. Mit Aleksandar Dimitrijevic lassen wir einen Vertreter der jungen Generation serbischer Psychoanalytiker zu Wort kommen. Wie eine Novelle vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte seines Landes, erinnert uns sein Beitrag daran, wie relativierend die klinische Realität auf hitzige theoretische Debatten wirken kann. Einen anderen Fokus wählt Maria Steiner-Fahrni. Sie untersucht, ob Träume Mentalisierungen über sich selbst, über andere und über das wechselseitige Bezogensein reflektieren. Und mit Thomas Bolm konnten wir einen weiteren ausgewiesenen MBT-Experten verpflichten, der es versteht, uns die Mentalisierungsgestützte Psychotherapie näher zu bringen, ohne dabei die Bedeutung der Psychoanalyse zu schmälern. Regula Schiess und Max Heer fordern dazu heraus, sich mit neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der Philosophie des Geistes auseinanderzusetzen. Der Artikel von Vera Saller schliesslich geht der Frage nach, ob das Freudsche Triebkonzept auch in den Überlegungen einer modernen Theorie des Denkens Bestand hat.

Auffallend bei der Lektüre der Artikel erschien uns, dass der Bezug zum Mentalisierungskonzept immer wieder verloren geht oder zu verschwinden droht; nicht nur im Text, sondern auch in den eigenen Gedanken. Möglicherweise, weil die Bedeutung der Mentalisierungsfähigkeit schon längst in unsere praktische Arbeit eingeflossen ist, uns deshalb vertraut vorkommt und nur das Benennen das wirklich Neue ist. Oder liegt das Konzept auf unserer psychoanalytischen Landkarte eben doch so weit entfernt von unserem eigenen Standort, dass wir es nur mit Mühe im Auge zu behalten vermögen? Die mentalisierungsgestützte Therapie, die spezifisch für die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelt worden ist, scheint aber doch als Ergänzung oder im Sinne von Bolm vorbereitend für die Anwendung psychoanalytischer Theorie und Technik hilfreich zu sein, gerade in ihrer Betonung der Dynamik der Beziehungsebene. Dabei steht nicht die Geschichte des Individuums, sondern das, was sich zwischen Analytikerin und Patientin im Hier und Jetzt ereignet, im Vordergrund. Dies erinnert auch an Antonino Ferro, der Bions Theorie und die Feldtheorie von Kurt Lewin weiterentwickelt hat und die analytische Sitzung als ein bipolares Feld versteht, in dem sich Analytiker und Analysand begegnen und dabei in jeder Sitzung ein neues Stück inszenieren, das nur gemeinsam verstanden werden kann und in jeder Sitzung neu entschlüsselt werden muss.

Das Mentalisierungskonzept verführt dazu, «das Kind mit dem Bad auszuschütten», indem es als eine Verarmung der Psychoanalytischen Theorie verstanden und entwertet werden kann. Konzentriert man sich aber auf das Ergänzende zum Bestehenden, so ist das Konzept hilfreich, oder, um nochmals Antonino Ferro zu erwähnen, im bipolaren Feld der analytischen Situation entwickelt sich eine ständige Hin- und Herbewegung von projektiven Identifikationen zwischen Analysierenden und Analysierten. Aufgabe des Analytikers ist es, den Patienten im Prozess des gemeinsamen Erkennens und Verstehens so zu fördern, dass eine Transformation von Alpha-Elementen in Beta-Elemente gelingt. Und das bedeutet nichts anderes als die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit, welche den Boden für einen analytischen Prozess bereitet.

Rezensionen und Tagungsberichte vervollständigen das Heft.

Sonja Wuhrmann
Julia Braun
Lutz Wittmann

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Veröffentlicht

2011-12-01

Zitationsvorschlag

Wuhrmann, S., Braun, J., & Wittmann, L. (2011). Editorial. Journal für Psychoanalyse, (52), 3–6. https://doi.org/10.18754/jfp.52.1