Stefan Dietrich, 1943-2017


Thomas Merki (Zürich)


Stefan Dietrich wurde am 18. Januar 1943 in Zürich geboren. Sein Vater war Zahnarzt, die Mutter führte den Haushalt. Als fünftes von sechs Kindern wuchs er in einer grossen Familie auf.

Stefan Dietrich war Germanist und studierte von 1963-1973 an der Universität Zürich. Er promovierte 1975 über Oedoen von Horvath. Der Titel seiner Dissertation lautete: «Gesellschaft und Individuum bei Odoen von Horvath. Interpretation von Stücken bis zur Emigration». Vor seiner beruflichen Hinwendung zur Psychoanalyse war Stefan Dietrich Gymnasiallehrer.

Ich lernte Stefan Dietrich im Sommersemester 1985 am PSZ kennen. Als junger Teilnehmer in psychoanalytischer Ausbildung führte ich an der Abklärungsstelle mit anderen KollegInnen unter kundiger Anleitung zweier erfahrener Kollegen Abklärungen bei Personen durch, die psychoanalytische Hilfe suchten. Einer der Supervisoren war Stefan Dietrich. Der vollbärtige und in Latzhosen gekleidete Analytiker beeindruckte mich durch seine Fachkompetenz, aber mehr noch durch seine teilnehmende, offene Kommunikation. Nichts von jener kritisch-abwartenden Zurückhaltung, die mir bei anderen DozentInnen übermässigen Respekt einflössten und Unbehagen auslösten. Bei den Kneipenbesuchen nach den Besprechungen der Interviews in der Gruppe lernten wir uns näher kennen. Uns beide verband eine gewerkschaftliche Vergangenheit. Schnell kristallisierte sich das gemeinsame Interesse an der Verbesserung der unbefriedigenden Situation der nichtärztlichen PsychotherapeutInnen heraus. Davon später mehr.

1991-1992 besuchte ich bei Stefan Dietrich ein technisches Seminar. Dabei lernte ich seinen Sprachwitz und seine literaturwissenschaftlichen Kenntnisse kennen und schätzen.

In den darauffolgenden Jahren lernte ich bei Stefan Dietrich viel über psychoanalytische Literaturtheorie und habe daraus resultierend einen neuen Zugang zu den Erzählungen der AnalysandInnen gefunden. Mit den KollegInnen Erika Meier, Doris Wüthrich und Heini Bader kamen wir über viele Jahre 14-täglich bei Stefan Dietrich zu einer Literaturgruppe und zur gemeinsamen Fallbesprechung zusammen.

Stefan Dietrich lebte uns exemplarisch vor, dass dies alles nicht in einem akademischen Elfenbeinturm stattfinden muss, sondern in einem permanenten Austauschprozess von individuellen Erfahrungen und gesellschaftlichen Bedingtheiten.

Auf Initiative von Stefan Dietrich gründeten Mitglieder der Stiftung für Psychotherapie und Psychoanalyse und weitere KollegInnen des PSZ im Jahr 1993 die «Gesellschaft delegiert arbeitender PsychotherapeutInnen GedaP», deren erster und langjähriger Präsident Stefan Dietrich selbst war. Wir konnten wohl seit einiger Zeit, aufgrund eines höchstrichterlichen Urteils, als ärztliche Angestellte die Leistungen über die obligatorische Krankenversicherung abrechnen, befanden uns aber in einem weitgehend ungeregelten Zustand und wurden von verschiedenen Seiten angefeindet. Als Gründungs- und langjähriges Vorstandsmitglied erlebte ich diesen ganzen Aufbauprozess hin zu einer Vereinbarung mit der Ärzteschaft und den Krankenkassen, die das Delegations- resp. Anstellungsverhältnis geregelt und zu einer eigenen Abrechnungsposition im Katalog ärztlicher Leistungen geführt hat. Dass dies gelang, ist das grosse Verdienst von Stefan Dietrich!

1996 wurde ich Mitglied der Praxisgemeinschaft der Stiftung für Psychotherapie und Psychoanalyse, dessen Präsident Stefan Dietrich über lange Jahre war. Die Stiftung wurde 1979 von Emilio Modena zusammen mit dem zu früh verstorbenen Giovanni Duse und Vreni Schärer-Wepfer gegründet. Die Stiftung und die psychoanalytische Gruppenpraxis nahmen sich vor, die Erfahrungen bei der Behandlung der «kleinen Leute» kontinuierlich zu reflektieren. Nebst seiner langjährigen Präsidentschaft leistete Stefan Dietrich wissenschaftliche Beiträge u. a. zum Forschungsprojekt «Zur Frage des Bewusstseins von Arbeitern und Angestellten in der Mikroelektronik-Industrie» zusammen mit Heini Bader, Emilio Modena und Katharina Petersen. «Die Geschichte der delegierten Psychotherapie und ihr immanenter Spagat zwischen Selbstbestimmung und faktischer Abhängigkeit» lautete eine weitere Veröffentlichung von ihm (in Emilio Modena, Hsg.; «Mit den Mitteln der Psychoanalyse …»; www.psychoanalyse-stiftung.ch ; 2002, Psychosozial-Verlag).

Ob als kochender Gastgeber, als Psychoanalytiker, als Literaturwissenschaftler oder als Kämpfer für einen Zugang zu psychoanalytischer Behandlung für Menschen mit wenig Geld: Stefan vertrat seine Ansichten mit Leidenschaft und Konsequenz - Halbheiten waren ihm zuwider.

Der berufspolitische Kampf hatte aber Spuren hinterlassen. Stefan Dietrich verfolgte pragmatisch und konsequent seinen Weg. Das Ziel war die schrittweise Besserstellung und Anerkennung der delegiert arbeitenden PsychotherapeutInnen. In dieser für viele von uns schwierigen Zeit, wandten sich einige von der ursprünglichen Arbeitsgruppe ab und zogen sich mehr in die klinische Arbeit mit den Patienten zurück oder verfolgten (was mich betrifft) verstärkt das alte Ziel der Berufsausübung als selbständiger Leistungserbringer zu Lasten der Krankenkasse.

In den letzten Jahren zog sich Stefan vermehrt zurück, wohl auch krankheitsbedingt. Die Krebserkrankung und deren Behandlung machten ihm sehr zu schaffen und stellten seinen Durchhaltewillen immer wieder auf die Probe. Im Mai dieses Jahres verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Stefan rasant und er verstarb am Abend des 17. Mai im Spital an seiner Krebserkrankung.

Was bleibt sind meine Erinnerungen an eine über 30-jährige, intensive Freundschaft. Stefan hinterlässt tiefe Spuren: am PSZ war er mehrfach in der Seminarleitung, war Ausbildner und Dozent. Als Vorkämpfer für die Anerkennung der delegiert arbeitenden PsychotherapeutInnen hat er sich grosse und bleibende Verdienste erworben.

Stefan war ein feinfühliger, feinsinniger und sehr gebildeter Mensch, der mit Vehemenz und grossem Stehvermögen seine sozialen Ziele verfolgte. Dafür möchte ich ihm im Namen vieler KollegInnen von Herzen danken.