Was macht Christian Kracht?

Fabian Ludwig (Luzern)

Zusammenfassung: Der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht zieht die Öffentlichkeit auf rätselhafte Weise in den Bann und sorgt für heftige Kontroversen. Seine Wirkung beruht auf der Art, wie er gesellschaftlich verankerte Symptome aufgreift: Er führt den lust- und schmerzvollen Überrest vor, der vom Symptom bleibt, wenn es seinen Sinn und Zweck verloren hat. Diesen Effekt erzielt sein Roman Imperium, indem er die bedeutungsschweren Symptome vergangener Tage in ein heute unangemessen wirkendes, unbeschwertes Medium überträgt. Damit versetzt Kracht ideologische Symptome auf nicht zeitgemässe Weise in die gegenwärtige Zeit - eine Zeit, in der diese Symptome nicht mehr als Stütze einer verbindenden Fantasie dienen dürfen. Die öffentliche Resonanz zeigt eindrücklich auf, wie wirkmächtig diese sinnlosen Überreste geblieben sind. Der spitzbübische Schriftsteller entzieht sich dabei jeglicher politischer Stellungnahme oder Einordnung seines Werkes. Dadurch ist der Leser mit seinen Empfindungen auf sich selbst zurückgeworfen. Die wesentliche Lehre von Krachts Werk ist die folgende: Es ist nicht der Inhalt und Sinn, der Lust erzeugt. Es ist genau umgekehrt die stumpfe, sinnlose Lust, welche die Form vorgibt, in der Inhalt und Sinn wirksam werden können.



Eigenartiges spielte sich ab im Literaturclub des Schweizerischen Fernsehens im Oktober 2016. Vor den befremdeten und belustigten Mienen der ZuschauerInnen windet sich Philipp Tingler im Bemühen zu erklären, weshalb er das neue Buch von Christian Kracht - Die Toten - zur Lektüre empfiehlt. Seltsam inhaltsleer mute das Buch an. Es sei nicht zu erkennen, worum es darin gehe, das ganze Buch sei letztlich eine Farce. Der Autor schweige, während sich die Kritik in absonderlichen Deutungen versteige. Rüdiger Safranski unternimmt noch einen Versuch, die Relevanz der im Buch dargestellten Zeitgeschichte herauszustreichen, doch die Runde ist sich einig: Die inhaltliche Rezension läuft ins Leere, sie trifft das, was man beim Lesen erlebt, in keiner Weise. Und dann die Sprache! Über weite Teile misslungen sei sie, manieriert und prätentiös - dabei habe Kracht das doch gar nicht nötig, schreiben könne er ja! Und doch soll es sich um eine ganz neuartige Literatur handeln, eine spätmoderne Literatur, kulturmorphologisch phänomenal (SRF Literaturclub, 2016).

Tatsächlich handelt es sich bei Die Toten um ein befremdliches Buch, so bedeutungsschwer und formvollendet wie auch inhaltsleer und ironisch distanziert mutet es an. Besonders befremdlich wirkt die in ihrer Manieriertheit doch irgend-ie schlüssig wirkende Sprache. Immer wieder dieses «behandschuht», eine «behandschuhte Geste», jemand prüft «weiss-behandschuht die Billets». Minuten dehnen sich «kaugummiartig», ein Tycoon erscheint «grinsepolternd», «die Handflächen zum umarmenden Grusse schaufelbreit geklafft». Jemand hat einen «wunderhübschen Knispelmund» und «hält ein Fläschchen Hoffmannstropfen unter die Nasenflügel seiner schmalen schweizerischen Seele». Viele Worte berühren die Leserin durch ihren Klang auf eigentümliche, fast körperliche Weise. Manchmal geht es auch zu wie im Comic mit eingeschobenem «Haha! Grmmmpfff!» oder mit Lautsprache wie «klop-klop-klop» (Kracht, 2016).

Zunehmend drängt sich beim Lesen der Verdacht auf, dass hier nicht nach einem verborgenen inhaltlichen Sinn zu suchen ist. Das Wesentliche dieses Buchs scheint vielmehr in der Lust zu liegen, die in Krachts Gebrauch von Sprache und Motiven liegt. Besonders angetan scheint Kracht von Ausdrücken oder Stilmitteln zu sein, welche im Literaturbetrieb als verpönt gelten, guilty pleasures sozusagen. Diese Elemente setzt er aber in die erhabene dreiteilige Form des japanischen No-Theaters und in eine Sprachmelodie, die man eher aus Gedichten kennt denn aus Romanen.

Diese Eigenart Krachts wird vielerorts als gezwungen kritisiert. Seine aktuellen Werke werden in Kontrast zu seinen angeblich wesentlich bedeutenderen frühen Werken gestellt, so beispielsweise in der Kritik von SRF 2 Kultur:

Handlung bedeutet gar nichts, Stil alles (…) Hier reiht er edle Adjektivketten aneinander, bis sich alles Fassbare verflüchtigt und man den Sinn der Sätze oft übersetzen muss. Das war mal anders, beim Debüt «Faserland» zum Beispiel, vor über zwanzig Jahren, und auch danach. (…) Christian Kracht ist nicht zu fassen. Sein neuer Roman ist eigentlich ohne Inhalt und wenn sein Autor sich äussert, dann sagt er nichts. Immer schon hat er sich als Rätselfigur gegeben, die hinter den Spiegelungen seiner Texte und Themen verschwindet. (Schaper, 2016)

Diese Kritik übersieht, dass schon sein frühes Werk durch genau diese befremdlichen Eigenarten seine Bedeutung erlangt hat: dass sich Kracht von der Lust und der Form leiten lässt, und nicht vom Inhalt. Und dass sich Kracht nicht fassen lässt.

Lust an Nazi-Motiven

Seit seinem ersten Roman Faserland von 1995 gilt Christian Kracht als Schriftsteller einer Generation, seine seither erschienenen Bücher sind jeweils Ereignisse im Feuilleton. Unvergessen ist die heftige Kontroverse um seinen letzten Roman, Imperium, eine «Aussteigergeschichte in den deutschen Kolonien der Südsee», in der Kracht gutgelaunt mit den Formen des historischen Abenteuerromans spiele, wie es auf dem Buchdeckel harmlos heisst (Kracht, 2012). Ausgelöst wurde die Kontroverse durch den Artikel Die Methode Kracht von Georg Diez im Spiegel. Der Artikel eröffnet mit der nur zu bekannten Frage: «Was will Christian Kracht?» Diez wundert sich über den seltsamen Klang von Krachts Sprache, welche «sich sanft wie Wellen, die auf den Horizont zulaufen» kräusle. Zugleich mische sich aber bei der Lektüre dem exotischen Klang ein zunehmendes Unbehagen bei. Er macht dieses Unbehagen beispielsweise an einer Anspielung an den Holocaust im Roman fest: «Komödiantisch wäre es wohl anzusehen, wenn da nicht unvorstellbare Grausamkeit folgen würde: Gebeine, Excreta, Rauch.» Diez schreibt dazu: «Kracht lässt diese drei Worte fallen wie die schönsten, bösesten Edelsteine, die er finden konnte. Aber was will er mit dieser Provokation?» Er beantwortet die Frage letztlich so: Kracht sei der Türsteher der rechten Gedanken, ein Beispiel dafür, wie demokratiefeindliches, totalitäres Denken seinen Weg in den Mainstream findet (Diez, 2012). Der Artikel und die Vergabe des Wilhelm Raabe-Literaturpreises für Imperium lösten im deutschsprachigen Literaturbetrieb eine heftige und spannende Auseinandersetzung aus, welche sich in einem Sammelband nachlesen lässt (Winkels, 2013).

Hier eröffnet sich eine augenscheinliche Parallele zu einem anderen zeitgenössischen Phänomen, jenem der deutschen Band Rammstein. Aufgrund ihrer Verwendung von Nazi-Motiven wurde der Band seit ihrer Gründung 1994 immer wieder die Nähe zu faschistischer Ideologie vorgeworfen. Der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek bot dazu eine neue und verblüffende Auffassung. Žižek sagt, er habe begriffen, was Rammstein tue. Es sei grundlegend falsch, die Band unter Ideologieverdacht zu stellen. Die verwendeten Motive und das «obszöne Gebrabbel» seien lustbesetzte Knotenpunkte der Nazi-Ideologie. Die Band löse diese «Nazi-Lustknoten» nun aber aus ihrem gewöhnlichen ideologischen Kontext heraus und stelle sie dem Hörer in befreiter Form zum Geniessen bereit. Dann soll sich ungefähr Folgendes abspielen: Die Hörerin geniesst diese «Nazi-Lustknoten» im vorideologischen Zustand, und fühlt dabei, wie sie davon verführt und aufgewühlt wird, einen «Kick» davon bekommt. Dadurch wird ihr klar: Das ausgelöste wohlig-schaurige Gefühl hat nicht etwa mit der «grossen Idee» der Nazi-Ideologie zu tun, sondern kann durch diese Lustknoten allein, ohne ihren Kontext, getriggert werden. Dies führt zur Wahrnehmung eines Bruchs in der scheinbar konsistenten Ideologie und unterminiert damit das Nazi-Denken. Rammstein führt dem Hörer vor, dass die Verführungskraft der Nazi-Ideologie nicht im Inhalt, sondern in der Lust liegt, die wiederum irgendwo im Klang der Worte, «in der penetranten Körperlichkeit des obszönen Gebrabbels» liegt (Žižek, 2008b).

Symptom, Sinthom und Jouissance

Žižek nennt diese lustbesetzten Knotenpunkte Sinthome. Dieser Neologismus wurde von Jacques Lacan eingeführt und bezeichnet einen bestimmten Aspekt des Symptoms. Das Symptom dient dem Menschen nämlich in zweierlei Weise als Stütze für sein Dasein. Die eine Weise ist analysierbar, die andere nicht.

Zunächst einmal hat das Symptom die Funktion, einen inneren Konflikt in einen äusseren Konflikt auszulagern und dem Menschen damit ein harmonisches Selbsterleben zu ermöglichen. Ein einfaches Beispiel ist Freuds Beschreibung der «ängstlichen Überzärtlichkeit» bei der Zwangsneurose: Die Zwangsneurotikerin hat zugleich zärtliche wie auch feindselige Regungen gegenüber einem nahestehenden Mitmenschen. Wegen eines verinnerlichten Verbots solcher feindseliger Regungen gerät sie in einen inneren Konflikt. Sie verdrängt die verbotenen feindseligen Wünsche, indem sie sie auf das Symptom der Zwangshandlungen verschiebt. Darin wird die Zärtlichkeit überbetont, zugleich aber findet die Feindseligkeit zum Ausdruck, etwa wenn der Zwangsneurotiker seinem Mitmenschen mit übertriebenen «Schutzmassnahmen» das Leben zur Qual macht:

Die Zwangshandlung ist angeblich ein Schutz gegen die verbotene Handlung; wir möchten aber sagen, sie ist eigentlich die Wiederholung des Verbotenen. (Freud, 1999b, S. 65)

Der Zwangsneurotikerin gelingt mit der Symptombildung ein Streich, welcher einen entscheidenden Befreiungsschlag für ihr Dasein bedeutet: Sie lebt die verbotenen Wünsche aus, ohne davon zu wissen. Der zermürbende innere Konflikt, die innere Gespaltenheit, wird ausgelagert in einen äusseren Konflikt zwischen einem harmonischen Selbst und einem lästigen Symptom («wenn ich doch bloss nicht dauernd so Angst um meine Mitmenschen haben müsste …»).

Die Symptombildung erfolgt mit den Mechanismen der Traumarbeit. Mittels analytischer Arbeit kann das Symptom déchiffriert und auf seinen zugrundeliegenden Konflikt zurückgeführt werden. Zu diesem Zeitpunkt müsste sich das Symptom eigentlich auflösen, da dessen Funktion (die Verdrängung aufrechterhalten, ein harmonisches Selbsterleben ermöglichen) dann hinfällig geworden ist. Merkwürdigerweise geschieht gerade dies häufig nicht: Trotz Aufschlüsselung in der Analyse besteht das Symptom fort oder es kehrt in veränderter Form wieder.

Auf dieser Erfahrung gründet Lacan seine Auffassung des Sinthoms. Das Sinthom meint den nicht-analysierbaren Kern von Geniessen, der im Symptom liegt und sich jeglicher Symbolisierung und Sinngebung entzieht. Das Symptom setzt sich also zusammen aus diesem vorsemantischen Sinthom sowie aus einer symbolischen Konstruktion um diesen Kern herum. Ein geeignetes Beispiel findet sich wieder bei Freud. In seiner bekannten Fallgeschichte von 1905 leidet Dora an hysterischen Anfällen von Husten und Heiserkeit. Freud schreibt:

Zuunterst in der Schichtung ist ein realer, organisch bedingter Hustenreiz anzunehmen, das Sandkorn also, um welches das Muscheltier die Perle bildet. Dieser Reiz (…) ist also geeignet dazu, der erregten Libido Ausdruck zu geben. (Freud, 1999a, S. 245)

Dieser Hustenreiz ist das Sinthom, das für eine Ersatzbefriedigung für Doras verschiedenartige verdrängte Wünsche geeignet ist und daher von diesen zum Symptom der Husten- und Heiserkeitsanfälle verpuppt wird. Das Sinthom, dieses sinnlose Geniessen, gibt also die Form vor, in der sich ein symbolisch chiffriertes Symptom entwickeln kann und ist zugleich auch der Überrest, der weiter wirksam bleibt, wenn das Symptom seinen Sinn verloren hat.

Das Geniessen, das im Symptom oder Sinthom liegt, nennt Lacan Jouissance. Gemeint ist ein stumpfsinniges Geniessen, das so weit getrieben wird, dass es in Schmerz umschlägt. Es ist ein unersättliches, obszönes Geniessen. Žižek vergleicht es mit der Art von Befriedigung, die man empfindet, wenn man nicht aufhören kann, an seiner eigenen eitrigen Wunde herumzugrübeln (Myers, 2003, S. 86).

Gesellschaftliche Symptome und Ideologiekritik

Das Symptom und die Jouissance bilden aber nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für eine Gemeinschaft den Grundstein für das Erleben einer harmonischen (nicht in inneren Konflikten gespaltenen) Identität. Žižek hat dies am Beispiel des Antisemitismus aufgezeigt.

Der Trick des Antisemitismus besteht gemäss seiner Analyse darin, dass die im Wesen des politischen Systems liegende Spaltung der Gesellschaft (die sozialen Unterschiede, die Ausbeutung, usw.) ausgelagert wird auf eine Spaltung zwischen einer eigentlich homogenen, friedlichen Gesellschaft und der hinterhältigen Figur des Juden, der diese Gesellschaft korrumpiert. Die unerträgliche soziale Spaltung wird mit der Fantasie der harmonischen Gesellschaft überdeckt, indem das Symptom des Juden erschaffen wird, auf den negative Aspekte des sozialen Antagonismus verschoben und zusammen mit anderen verwerflichen Eigenschaften zu einer widersprüchlichen Figur verdichtet werden (der Jude nützt den deutschen Arbeiter aus, er ist zugleich schmutzig und elitär, zugleich wollüstig und impotent, usw.). Die geteilte Jouissance im Symptom des Juden stiftet ein Gemeinschafts- und Identitätsgefühl: «Wir wären so eine friedliche, harmonische, produktive Gesellschaft - wenn bloss der Jude nicht wäre …» (Žižek, 2008a, S. 140-143).

Natürlich lassen sich zahlreiche weitere Beispiele finden, wie etwa die rassistische Faszination für exotische Völker, auf die verbotene Triebe ausgelagert werden zugunsten eines kontrollierten Selbsterlebens, oder aber auch sexistisches Geniessen zugunsten der Fantasie harmonischer Geschlechtsidentitäten.

Die geschilderten Beispiele von gesellschaftlichen Symptomen lassen sich offensichtlich gut déchiffrieren und auf die zugrunde liegenden Konflikte zurückführen. Damit ist es mit der Ideologiekritik aber nicht getan. Žižek beschreibt, wie die Jouissance im Symptom des Juden eine noch viel fundamentalere Funktion übernimmt: Für ihn ist der Jude im Antisemitismus die positive Verkörperung der ganz grundlegenden Unmöglichkeit einer Gesellschaft, zu einer Identität als geschlossene, homogene Einheit zu gelangen (Žižek, 2008a, S. 140-143). Hier kommen wieder die nicht-analysierbaren Sinthome ins Spiel, auf die sich die Wirkmacht von Ideologien im Wesentlichen stützt.

Ein bekanntes Beispiel von Žižek ist das Singen von anzüglichen Sprechchören im Truppenverband der Armee, wie es beispielsweise im Film Full Metal Jacket gezeigt wird: "This is my rifle, this is my gun, this is for fighting and this is for fun" (Kubrick, 1987). Žižek betont, dass all die kleinen Obszönitäten im Militär nicht etwa als subversive Kritik am starren Rahmen zu verstehen sind, wie man meinen könnte, sondern dass gerade diese den Kern des Gemeinschaftsgefühls und der Ideologie ausmachen, dass erst dadurch Menschen zu effizienten Kampfmaschinen werden können (Žižek & Fiennes, 2012). Der Effekt von geteiltem obszönem Geniessen ist aber bereits in Alltagssituationen wie dem gemeinsamen Lachen über einen «politisch unkorrekten» Witz, dem Lästern oder Mobben ersichtlich: In einer Ansammlung von atomisierten Individuen, die einander eigentlich nicht viel zu sagen haben, stiftet das geteilte Geniessen die Illusion einer intimen Zusammengehörigkeit. Die Jouissance bildet den Kitt für die Herstellung einer verschworenen Gemeinschaft.

Dieses geteilte, stumpfsinnige Geniessen legt also die Grundlage für ein homogenes Identitätserleben und gibt die Form vor, in welche dann gesellschaftliche Symptome chiffriert werden können. Dieses Geniessen bleibt auch weiter wirksam, nachdem das Symptom analysiert werden konnte und eigentlich nicht länger benötigt werden sollte. Wie kann Ideologiekritik aussehen an dem Punkt, wo das Déchiffrieren und Analysieren versagt? Für Žižek eben etwa so wie bei Rammstein: Indem die Sinthome der Nazi-Zeit aus dem ideologischen Kontext befreit und in ihrer Wirkmacht unmittelbar erfahrbar gemacht werden (Žižek, 2008b).

Imperium und die untoten Symptome

Kracht macht etwas Ähnliches wie Rammstein. Am besten lässt sich dies an seinem kontroversesten Roman aufzeigen. Imperium spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte des deutschen Aussteigers August Engelhardt, welcher in der Kolonie Deutsch-Neuguinea eine Insel erwirbt und von Eingeborenen eine Kokosnuss-Plantage bewirtschaften lässt, um sich fortan nur noch von der Kokosnuss zu ernähren. In einer heiteren, sentimentalen und ironisch distanzierten Sprache lässt Kracht Symptome aus der Zeit des deutschen Imperialismus mit ihrer Fantasie der völkischen Überlegenheit aufleben, etwa wenn er schreibt, dass das zwanzigste Jahrhundert …

… ja bis zur knappen Hälfte seiner Laufzeit so aussah, als würde es das Jahrhundert der Deutschen werden, das Jahrhundert, in dem Deutschland seinen rechtmässigen Ehren- und Vorsitzplatz an der Weltentischrunde einnehmen würde. (Kracht, 2012, Kap. I)

Oder wenn der Protagonist «innerlich vor Wohligkeit» erschauert, als er in das «knochenweisse Gebiss, welches in einem kerngesunden, rosaroten Zahnfleisch steckte» (Kracht, 2012, Kap. II) schaut. Jouissance liegt in den Worten, die Kracht gemäss Diez fallen lässt «wie die schönsten, bösesten Edelsteine, die er finden konnte» (2012). Der Tonfall der Erzählung bleibt dabei beschwingt und sich keiner Schuld bewusst. Selbst wenn im Buch von Hitler oder vom Holocaust die Rede ist, dann mit einem Zug sentimentalen Bedauerns, aber ohne Urteil oder Schuldbewusstsein.

Damit führt uns Kracht die ehemals bedeutungsschweren Symptome des deutschen Imperialismus auf eine andere Weise vor als es im gegenwärtigen Diskurs üblich ist. In den populären Dokumentarfilmen zur deutschen Imperialzeit und zum Aufstieg der Nazi-Ideologie etwa kann sich die Betrachterin der Faszination der vorgeführten Grössenfantasien und Symptome gefahrlos hingeben, da diese explizit in ihren schuldbeladenen ideologischen Kontext eingeordnet und verurteilt werden. Mit anderen Worten: Der Betrachter erhält die Versicherung, dass er dieser Faszination in der heutigen Zeit nicht mehr erliegen könnte.

Bei Kracht bleibt diese Absolution aus. Statt einem heute «angemessenen» Medium für die Darstellung dieser ideologischen Symptome, wie beispielsweise einer historischen Tragödie, wählt er das Format des verspielten Abenteuerromans. Die Leserin empfindet Lust und eine schaurige Faszination in den wiederbelebten Symptomen vergangener Zeiten. Sie erwartet die gewohnte Entschärfung in Form eines eindeutigen Augenzwinkerns oder einer klaren öffentlichen Stellungnahme des Autors. Selbst eine rechtsideologische Positionierung des Autors würde eine Erleichterung bedeuten, da der Leser das Buch dann verurteilen und sich den Lustgewinn darin verbieten könnte. Aber es kommt einfach nichts dergleichen. Dadurch ist die Leserin auf sich selbst zurückgeworfen. Natürlich weiss sie, welche ungeheure Schuld die Gesellschaft auf sich geladen hat, indem sie sich von der Ideologie verführen liess, in der diese Symptome gewöhnlich verankert sind. Ein schauriges Unbehagen stellt sich ein: Darf ich das jetzt geniessen? Ist das eine Falle? Mache ich mich gerade schuldig? Oder darf ich jetzt wirklich?

Christian Kracht ist ein Spitzbub: Er tut einfach so, als könnte man diese Symptome in der heutigen Zeit schuldfrei geniessen. Es sind Symptome, deren tragende Rollen in ihrer Ideologie längst durchschaut und déchiffriert sind, die diese Bedeutung und diesen Sinn in der heutigen Zeit verloren haben. Die Lust aber ist immer noch unvermindert da. Kracht isoliert die Sinthome aus den ehemals bedeutungsschweren ideologischen Symptomen: Er zeigt uns deren Überrest, deren Kadaver. Die gewaltige öffentliche Wirkung dieses Streichs zeigt aber, dass es sich dabei weniger um Kadaver als vielmehr um lebende Untote handelt, die uns bis heute verfolgen.

Mit Žižek lässt sich Imperium folglich als Ideologiekritik lesen: Der Leser bekommt die Verführungskraft dieser Sinthome am eigenen Leib zu spüren, wodurch ihm klar wird, was für ein stumpfsinniges Geniessen der Ideologie ihre Macht gibt. Oder anders formuliert: Kracht zeigt uns das aus Lust bestehende Gerüst, an dem politische Bewegungen einen Sinn aufhängen können.

Die Rezeption von Imperium und die Antwort in Finsterworld

Georg Diez hingegen liest Imperium als Wiedereinführung totalitären Denkens in den Mainstream. Für diese Auffassung wurde Diez heftig kritisiert. Sie ist aber eine genauere Betrachtung wert. Tatsächlich sind ja perverse rechte Bewegungen im Vormarsch, welche diese Symptome kaum verhüllt in ihrer ursprünglichen ideologischen Funktion wieder aufgreifen. Wenn Kracht das Geniessen in verbotenen Symptomen ohne kritische Einordnung ermöglicht, besteht dann nicht die Gefahr, dass die Leserin davon verführt wird? Das Szenario ist durchaus vorstellbar: Dem Leser wird durch diese Erfahrung bewusst, welche Beschränkung seines Geniessens ihm im üblichen Diskurs tagtäglich auferlegt wird. Er ist es satt, sich für dieses Geniessen ständig zu schämen, und sucht sich in politischen Bewegungen die ideologische Leitplanke, die bei Kracht fehlt. Er beginnt sich gegen «Denkverbote» - eigentlich sind es ja Geniess-Verbote - der «politisch Korrekten» zu wehren, er schliesst sich den Identitären, der AfD oder den Holocaustleugnern an, die die Schuld verleugnen und sich den alten Ideologien zuwenden, indem sie das vergangene Jahrhundert wegwischen wie einen bösen Traum, den man am besten schnell wieder vergisst.

Der Film Finsterworld aus dem Jahr 2013 kann als eine Antwort auf diese Kritik gesehen werden. Das Drehbuch zum Film hat Frauke Finsterwalder gemein-sam mit ihrem Mann - Christian Kracht - verfasst. Es handelt sich um eine Art Momentaufnahme der deutschen Befindlichkeit, zu der ein KZ-Besuch von PrivatschülerInnen die Rahmenhandlung bildet. Ähnlich wie Krachts Bücher orientiert sich der Film an sinnlos gewordenen deutschen Symptomen, deren idiotische Jouissance aber doch irgendwie an den Deutschen kleben bleibt. Dies etwa wenn der Fusspfleger Claude darüber sinniert, warum dieses «Fiderallala» und «Simsalabim bamba saladu saladim» in deutschen Volkslieder denn so schrecklich ist, aber man doch einfach nicht damit aufhören kann, es zu singen (Finsterwalder & Kracht, 2013).

Die Antwort des Films auf die Kritik an Imperium ist die Folgende: Das Geniessen, das in Imperium gezeigt und ermöglicht wird, ist die ganze Zeit schon da - es ist ein heimliches, unterdrücktes Geniessen, direkt unter der korrekten Oberfläche. Dies wird in verschiedenen Szenen des Films deutlich: Die PrivatschülerInnen beteiligen sich an der Erinnerungskultur, indem sie das KZ besichtigen. Als niemand zuschaut, sperren aber Maximilian und Jonas ihre Mitschülerin in den Krematoriumsofen. Das gutsituierte Ehepaar Sandberg verlangt als Mietwagen «bitte die höchste Wagenklasse, und auf keinen Fall so ein Naziauto. Keinen Mercedes, BMW oder Porsche». Unterwegs in ihrem SUV unterhalten sie sich dann darüber, wie stilvoll im Dritten Reich alles ausgesehen habe, die Uniformen und die Flagge. Und wie danach alles extra hässlich gestaltet worden sei, selbst die Flagge, damit sich bloss niemand mehr mit Deutschland identifizieren könne (Finsterwalder & Kracht, 2013).

Diese Auffassung trifft sich mit Žižeks stetiger Kritik an der Political Correctness, welche seiner Ansicht nach ideologisches Geniessen lediglich überdeckt statt überwindet, und es damit erst recht am Leben erhält (Žižek, 2017). Dass aber Diez' Warnung nicht gänzlich fehlgeht, zeigt die Rezeption des Films in rechten Blogs: dort wird Finsterworld als «wahrhaft identitärer Film» gefeiert (Alexander, 2014). Hier zeigt sich, wie dicht diese vermeintlich toten Symptome unter der Oberfläche schlummern, und wie einfach sie von politischen Bewegungen wieder eingesetzt werden können. Kracht selbst meinte in einer seiner seltenen politischen Aussagen, seiner Frau sei es in dem Film gelungen, «die Topoi Männlichkeit und Faschismus auszuhebeln und in ihrer ganzen Erbärmlichkeit» zu zeigen (Littlewood, 2013).

Immer Ärger mit Kracht

Die jüngeren Romane Krachts werden vielerorts etwas ärgerlich aufgenommen. Die Rezensierenden fragen sich, was denn Kracht mit seinen Büchern überhaupt wolle. Wie in der anfangs zitierten Kritik von SRF 2 Kultur wird wehmütig auf sein 1995 erschienenes Debüt zurückgeblickt. Was hat Kracht damals anders gemacht?

In Faserland orientierte er sich an Symptomen der Konsum-Ideologie aus der Perspektive eines materiell privilegierten, emotional verlorenen Protagonisten. Auf seiner Reise von Sylt quer durch Deutschland bis in die Schweiz hangelt dieser sich von Distinktionsmerkmal zu Distinktionsmerkmal. Er klammert sich an die identitätsstiftenden Versprechungen der Konsumgüter, etwa beim Beschrieb seiner Hemden von Brooks Brothers mit dem wunderbaren Stoff und dem sich leicht rollenden Kragen. Faserland übt beim Lesen einen eigenartigen Sog aus, welcher sich dann verliert, wenn der Autor gegen Ende des Romans diese sinnlose Lust kritisch einordnet. Der Protagonist stellt sich ein Leben mit Kindern in einer Berghütte vor:

Ich würde ihnen von Deutschland erzählen, von dem grossen Land im Norden, von der grossen Maschine, die sich selbst baut, da unten im Flachland. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bisschen schlechter. Und dass die Auserwählten nur durch den Glauben weiterleben können, sie würden es ein bisschen besser tun, ein bisschen härter, ein bisschen stilvoller. (Kracht, 2015, S. 159)

Ein Happy End für LiteraturkritikerInnen, welche nun beruhigt durchatmen und das Buch im Feuilleton als kritisches Portrait einer Generation feiern können. In seinen jüngeren Romanen versagt Kracht der Leserin eine solche Entschärfung der empfundenen Lust. Der Leser muss selber wissen, wie er den Roman lesen und wie er die Lust einordnen will. Dies ist nun wirklich ärgerlich.

Und was ist jetzt mit Krachts rätselhaftem aktuellem Roman? Mehr denn je folgt Kracht in Die Toten gerade in der Sprache der Lust und nicht dem Sinn. Er folgt Stilmitteln und Ausdrücken, die ihm «einen Kick» geben, der irgendwo im Klang liegt. Von der Jouissance lässt er sich auch bei der Wahl der ProtagonistInnen leiten, bei Charlie Chaplin etwa, der im Roman eine wichtige Rolle spielt, und zu dem Kracht in einem Interview meint, er habe eine Art Hassliebe zu ihm, könne ihn fast nicht ertragen, «dieses Perfide», «dieses Liebevolle» (Scheck & Kracht, 2016). Und nicht zuletzt findet sich im Roman vielleicht der eine oder andere Hinweis darauf, was Kracht eigentlich tut.

Die Toten spielt in den frühen dreissiger Jahren und folgt dem fiktiven Schweizer Regisseur Emil Nägeli. Es ist die Zeit, in der sich die seit dem Versailler Vertrag etwas verloren daherflottierenden Symptome der deutschen Volksseele zusehends in die Nazi-Ideologie fügen. In dieser Zeit also kommt der Regisseur zum Schluss:

Er muss etwas erschaffen, das sowohl in höchstem Masse künstlich ist, als sich auch auf sich selbst bezieht. (…) nun aber muss er tatsächlich etwas Pathetisches herstellen, einen Film drehen, der erkennbar artifiziell ist und vom Publikum als manieriert und vor allem als deplaziert empfunden wird. (…) eine Metaphysik der Gegenwart (…), in all ihren Facetten, vom Inneren der Zeit heraus. (Kracht, 2016, S. 153-154)

Wohl nicht umsonst heisst das Endprodukt des Regisseurs gleich «wie dieses Buch» (Kracht, 2016, S. 206) - Die Toten. Weil die Lust bei Kracht nicht im Dienst eines höheren Sinnes steht, entsteht tatsächlich etwas Künstliches, Selbstbezügliches und Deplatziertes. Vielleicht sieht sich auch Kracht vor die Frage gestellt, was er seiner Zeit entgegensetzen kann, und vielleicht kommt ihm das manchmal auch wieder lächerlich vor. Vielleicht wird der arme Emil Nägeli im Roman darum derart der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Regisseur plant einen Gruselfilm, «eine Allegorie, bitte sehr, des kommenden Grauens» (Kracht, 2016, S. 120). Der fertige Film wird in den Zeitungen als avantgardistisch, mancherorts aber auch als «debil» bezeichnet. Die Rohfassung wird in einem «unscheinbaren Vorführraum im Seefeld» gezeigt, ein «leider recht unbegabter Cellist» begleitet die «schwarz-weissen, stumm flackernden Szenerien». «Nicht alle Zuschauer bleiben wach» (Kracht, 2016, S. 206-207).

Literatur

Alexander. 24.02.2016. Finsterworld (Film), http://www.identitaere-generation.info/finsterworld/ [11.03.2017].

Diez, G. (2012). Die Methode Kracht Der Spiegel 7/2012, S. 100-103.

Finsterwalder, F. & Kracht, Ch. (2013). Finsterworld. Deutschland: Walker + Worm Film.

Freud, S. (1999a). Bruchstück einer Hysterie-Analyse (S. 161-286). Gesammelte Werke, Bd. V. Frankfurt am Main: Fischer.

Freud, S. (1999b). Totem und Tabu. Gesammelte Werke, Bd. IX. Frankfurt am Main: Fischer.

Kracht, Ch. (2016). Die Toten. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Kracht, Ch. (2015). Faserland. Frankfurt am Main: Fischer.

Kracht, Ch. (2012). Imperium (E-Book). Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Kubrick, S. (1987). Full Metal Jacket. UK, USA.

Littlewood, T. 10.10.2013. Christian Kracht über "Finsterworld," https://www.vice.com/de_ch/article/christian-kracht-ueber-finsterworld [05.06.2017].

Myers, T. (2003). Slavoj Žižek. New York: Routledge.

Schaper, R. 08.09.2016. Inhalt ist nichts, Stil alles: Christian Krachts geplante Kunst, https://www.srf.ch/kultur/literatur/schweizer-buchpreis/inhalt-ist-nichts-stil-alles-christian-krachts-geplante-kunst [05.06.2017].

Scheck, D. & Kracht, Ch. 29.08.2016. Christian Kracht: «Die Toten» ARD Druckfrisch, https://youtu.be/Y3036n9hTXU [05.06.2017].

SRF Literaturclub. 11.10.2016. «Die Toten» von Christian Kracht, http://www.srf.ch/play/tv/literaturclub/video/die-toten-von-christian-kracht?id=27b9ecc2-2f45-4576-977f-777705815d5f [05.06.2017].

Winkels, H. (Hrsg.). (2013). Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe: Die Diskussion um «Imperium» und der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2012. Berlin: Suhrkamp.

Žižek, S. (24.03.2017). Das Leben ist nun einmal krass. Neue Zürcher Zeitung, https://www.nzz.ch/feuilleton/sex-verbote-das-leben-ist-nun-einmal-krass-ld.153338 [05.06.2017].

Žižek, S. & Fiennes, S. (2012). The Pervert's Guide to Ideology. UK: P Guide Productions, Zeitgeist Films.

Žižek, S. (2008a). The Sublime Object of Ideology. London: Verso.

Žižek, S. (2008b). Deibt bleutsch Zeit 11/2008, http://www.zeit.de/2008/11/Deibt_bleutsch [05.06.2017].