Schwere Beats und schwere Jungs

Therapeutische Erreichbarkeit mittels Triple-R
bei schweren Adoleszenzstörungen in der
stationären Psychiatrie

Andreas Wepfer (Winterthur)


Zusammenfassung: Wie sind Jugendliche mit schweren Adoleszenzstörungen in der stationären Psychiatrie therapeutisch trotzdem zu erreichen, was kann multimediale Technologie hierzu beitragen und was heisst das für das Übertragungsgeschehen einer Behandlung? Der Artikel zeigt auf, wie mit Hilfe von Triple-R, einem musiktherapeutischen Verfahren, die Kontaktaufnahme zu jugendlicher Klientel auch unter schwierigen Umständen gelingen kann und so ein therapeutischer Prozess überhaupt möglich wird.



1 Ausgangslage

2 Musizieren heute

99% der 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz besitzen ein Smartphone (Waller, Willemse et al., 2016). Das sind beinahe alle. Solch ein Smartphone wird mitunter zum prallest gefüllten Träger intimster Inhalte, über den Jugendliche heutzutage verfügen können. Nichts anderes ist ihnen (auch körperlich) so nah. Es weist deshalb oft Körpertemperatur auf.

Und was tun sie eigentlich die ganze Zeit mit diesen Geräten? Die JAMES-Studie (Waller, Willemse et al., 2016) hat unter anderem das mediale Freizeitverhalten untersucht (das Freizeitverhalten mit digitalen Geräten) und ist dabei zu folgendem Schluss gekommen: 99% der 12- bis 19-Jährigen nutzen in ihrer Freizeit das Handy. Es steht damit auf Platz eins der medialen Freizeitaktivitäten. 95% nutzen das Internet (Platz zwei). Auf Platz drei kommt mit 93% das Musikhören zu liegen und auf Platz vier, mit 73%, das Fernsehen. Das sind die vier meist-genutzten Anwendungen. Bei genauerer Analyse kann der Platz 2 (Internet mit 95%) grob auf die Ränge drei und vier verteilt werden: Die Internetnutzung besteht nämlich zu 79% aus dem Besuchen von Videoportalen (YouTube usw.), was wir dem Rang vier (Fernsehen) zuordnen können und zu 68% dem Musikhören, was zu Rang drei gehört.

Gamen belegt erst den Rang sieben und stellt übrigens den signifikantesten Unterschied zwischen Mädchen und Jungen dar: Während Jungs zu 64% gamen, ist das bei Mädchen nur gerade zu 24% der Fall. Die Geschlechtsunterschiede in den ersten vier Rängen betragen demgegenüber höchstens ±2%.

Was nehmen wir aus dieser Studie für unsere Zwecke mit? Erstens: Praktisch alle Jugendlichen haben ein Smartphone. Bei uns in der Klinik stimmt das mit der Alltagswahrnehmung überein: Ich kann mich nicht an einen Jugendlichen in den letzten Jahren erinnern, der ohne Smartphone eingetreten wäre. Hingegen kann ich mich an einige erinnern, die gleich mehrere hatten - meist aus nachvollziehbarem Grund.

Zweitens: Musikhören und Videos/Filme schauen gehören zu den häufigsten medialen Freizeitaktivitäten Jugendlicher. Das ist es, was sie die ganze Zeit mit ihren körperwarmen Geräten tun. Ich könnte diese Arbeit ohne Weiteres auch der therapeutischen Erreichbarkeit mittels Videos und Filmen widmen, wie es Silke Braun 2016 am DGPPN-Kongress in Berlin getan hat (Wepfer, Braun et al., 2016). Die Arbeit dürfte recht ähnlich ausfallen. Nur habe ich mich nun mal auf den musikalischen Weg verlegt (Rang 3 der medialen Freizeitaktivitäten) und diesem entlang das Triple-R entwickelt.

Und drittens muss angesichts der empirischen Datenlage berücksichtigt werden, dass beinahe jedes Smartphone über einfache Apps zur Musikproduktion verfügt (oder zumindest gratis verfügen kann), mit denen in kurzer Zeit Beats und Playbacks erstellt werden können, wie wir sie bei der Anwendung von Triple-R benötigen. D.h. die flächendeckende Verbreitung dieser Geräte gibt konkret praktisch jedem Jugendlichen die Möglichkeit zur Musikproduktion in die Hand. Körperwarm.

Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass es keine zwei Minuten dauert, mit einer solchen App ein passables Playback zu produzieren über das anschliessend ein Text interpretiert werden könnte (Wepfer, 2016).

Es steht hier nicht zur Debatte, ob das, was ein digitales Gerät mit intelligenter Software hervorbringt, überhaupt Musik sein könne. Büttner hat diese Debatte bereits 1997 anhand sogenannt ernster und Unterhaltungsmusik äusserst trittfest und unterhaltsam aufgezeigt (Büttner, 1997). Es geht hier lediglich darum, ob wir mittels verfügbarer Technik über das Schöpfen von Klangwelten einen Zugang zu ansonsten schwer zugänglicher Klientel herstellen können. 99% der 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz besitzen ein Smartphone (Waller, Willemse et al., 2016). Von den medialen Freizeitaktivitäten steht das Musikhören gemäss dieser Studie mit 93% auf Platz drei. Ich möchte dieses Ranking therapeutisch nutzen, auf dass es über das Earphone den Jugendlichen erreiche.

3 Musiktherapie

Musiktherapie kennt einige rezeptive Anwendungen, bei denen es um das therapeutische Hören von Musik geht. Bekannt sind manualisierte Verfahren beispielsweise bei Tinnitus, chronischen Schmerzen, Migräne, Tumorerkrankungen und bei Frühgeborenen. Der jeweilige Effekt ist wissenschaftlich fundiert nachweisbar, wenngleich die Wirkungsweise auf neurologischer Ebene noch wenig durchdrungen ist.

Aktive Musiktherapie hingegen betrifft das Machen von Musik im Einzelsetting oder in Gruppen. Hier kommen bisher üblicherweise Gong, Klangschalen, Monochord, Perkussion, Songs auf Klavier oder Gitarre zum Einsatz. Digitale Audio Workstations werden in diesem Bereich noch kaum verwendet, obschon ihre Verbreitung wie oben gezeigt beinahe flächendeckend fortgeschritten ist.

Das folgende Zitat von Haffa-Schmidt, von Moraeau et al. (1999) mag aus dem letzten Jahrtausend sein («Voll Old School, man»), es umreisst das Arbeitsfeld der Musiktherapie jedoch nach wie vor präzise und zeitlos:

Gemeinsam ist allen methodisch unterschiedlichen Zugängen, dass das, was in der Musiktherapie geschieht, einem psychotherapeutischen Verständnis entspringt: Unser Ziel ist es, mit Improvisation, Musikrezeption und Musikprojekten Jugendlichen bei ihren individuellen und gleichzeitig jugendspezifischen Problemen Wege und Perspektiven zu öffnen, Handlungsspielräume zu erweitern, Ausdrucksmöglichkeiten jenseits der gesprochenen Sprache anzubieten und Defizite, Traumatisierungen und Konflikte zu bearbeiten. (Haffa-Schmidt, von Moraeau et al., 1999, S. 31 f.)

Triple-R fügt sich hier als Methode ohne Weiteres ein. Weil die Tonaufnahme konstituierendes Mittel des Verfahrens ist, verfügt Triple-R sowohl über rezeptive wie auch aktive Elemente. Zudem bewegt sich das Verfahren nicht ausschliesslich jenseits der gesprochenen Sprache, sondern hat erklärtermassen zum Ziel, vom Jenseits der Sprache in ein Diesseits der Sprache zu finden.

Am World Congress of Music Therapy in Wien (Wepfer & Bilke-Hentsch, 2014) bin ich bei der Präsentation von Triple-R kritisiert worden, dass das Arbeiten mit einer Digitalen Audio Workstation (das Arbeiten mit digitalen Mitteln, also mit einem Computer) keineswegs therapeutisches Arbeiten sein könne. Klassische Musiktherapie arbeite üblicherweise mit natürlichen Instrumenten wie Klangschalen, Gongs, Monochord und so weiter. Bei allem Respekt für den Einsatz natürlicher Instrumente würde ich dem entgegenhalten, dass in unserer Klinik in der letzten Zeit selten ein Jugendlicher mit seinem geliebten Monochord eingetreten ist, auch nicht mit seiner wertvollen Klangschale, aber ein Smartphone haben sie alle. Und Earphones mit jeder Menge identifikatorischen Materials. Das birgt Potential, das ich therapeutisch nutzen möchte - auch auf die Gefahr hin, dass es keine klassische Musiktherapie sei.

Schliesslich geht es bei Triple-R ja darum, einen tiefgreifenden therapeutischen Veränderungsprozess zu ermöglichen. Es geht darum, dass ein komplett verweigernder Jugendlicher zu einem behandelbaren Jugendlichen wird.

4 Adoleszenz

Die wesentliche Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz besteht im Heraustreten aus einem wie auch immer gearteten Herkunftssystem und dem Hineintreten in eine wie auch immer geartete Gesellschaft (Erdheim, 1982). Bei Erdheim mag dieses Herkunftssystem häufig eine bürgerliche Familie sein. Seine Adoleszenztheorie ist aber ohne Weiteres auf andere Herkunftssysteme anwendbar.

Unsere Klientel entstammt selten einer bürgerlichen Familie. Vielmehr finden sich multikulturelle Hintergründe, verstorbene oder sonstwie abwesende Eltern, verschwundene, psychisch kranke, überforderte oder geschlechtsumgewandelte Elternteile, Patchworkfamilien, stabile dysfunktionale Streitbeziehungen unter den Eltern, was alles andere als bürgerlich zu sein scheint und dem Jugendlichen jedenfalls besondere Bedingungen stellt bei der Bewältigung seiner Entwicklungsaufgaben.

Dennoch wächst der Jugendliche in einem wie auch immer gearteten Herkunftssystem auf - wie wechselhaft und verwahrlost und in deutlichem Gegensatz zu einem üblichen, bürgerlichen Familiensystem dieses auch sein mag - und hat sich in der Folge seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen und seine eigene Identität aufzubauen.

Das Herkunftssystem hat man sich grundsätzlich konservativ vorzustellen (Erdheim, 1982). Da gelten Regeln, die schon immer gegolten haben. Hier geht es grundsätzlich um Tradition. Die Gesellschaft hingegen ist geprägt durch Innovation. Sie wandelt sich dauernd, steht nie still, entwickelt sich stets weiter. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Die Gesellschaft hat man sich grundsätzlich wie einen Dschungel vorzustellen, in dem es sich zurechtzufinden gilt.

Damit die Jugendlichen den Schritt aus dem behüteten Herkunftssystem in den unbekannten Dschungel wagen können, brauchen sie zwei Dinge: Erstens eine bis zur Selbstüberschätzung gesteigerte narzisstische Energie, die sie in ihrer Entwicklungsaufgabe unterstützt. Sie müssen gleichsam blind vor Selbstvertrauen, völlig überzeugt von sich und ihren (noch nicht gänzlich entfalteten) Fähigkeiten in eine neue Welt schreiten, die sie noch nicht kennen (können). Erdheim (1982) formuliert das so: «Die erneute Besetzung des Selbst, sogar dessen Überschätzung sind notwendig, um die Infragestellung der äusseren Welt wagen und die dadurch bedingte Verunsicherung ertragen zu können» (Erdheim, 1982, S. 301). Auf Seiten der Gesellschaft wirkt sich diese Energiezufuhr entwicklungsfördernd aus. Die überschüssige Energie, die Jugendliche in die Gesellschaft tragen, dreht das Rad der Gesellschaft. Da kommen neue Ideen hinzu, da werden Start-ups gegründet, da entstehen neue Märkte. Die Jugend ist mit ihrer Energiezufuhr also wesentlich für die Entwicklung der Gesellschaft (bei Erdheim: Kultur) verantwortlich.

Bei unseren Jugendlichen ist dieses leidenschaftliche Stürmen in eine ungewisse Zukunft, das man sich vielleicht wie ein Wasserkraftwerk vorstellen könnte, aus welchen Gründen auch immer zum Erliegen gekommen. Diese adoleszenten Entwicklungsaufgaben sind individuell gestrandet, ausgesetzt, gescheitert, verirrt. Da ist nichts von einem selbstsicheren Sich-Aneignen eines Dschungels zu merken. Stattdessen beobachten wir eine allgegenwärtige Bankrotterklärung an diesen Entwicklungsschritt. Liegen und verweigern - das ist die Situation, die wir in unseren Gängen in der Tat häufig antreffen.

5 Triple-R

Triple-R beginnt meist damit, dass ich mich im Korridor neben den Jugendlichen hinsetze und frage, ob ich höre dürfe, was er hört. Gut möglich, dass das mehrere Anläufe braucht, die selbstverständlich sorgfältig zu dosieren sind. Gut möglich, dass ich mehrere Körbe erhalte. Aber der Wunsch hat dabei so echt und authentisch wie möglich zu sein: Ich möchte gerne hören, was du hörst. Wirklich.

Vielleicht reicht mir der liegende Jugendliche nach mehreren erfolglosen Versuchen kommentarlos die eine Seite seiner Earphones. Das ist ein grosses Geschenk und eigentlich die erste Einwilligung des Jugendlichen zu Triple-R. Auf keinen Fall darf ich die eine Seite der Earphones an mich reissen oder sie manipulativ zu erlangen versuchen. Hier habe ich mich bereits vollständig auf das Tempo und die Bereitschaft des Jugendlichen einzustellen.

Wenn der Jugendliche mir einen Höreindruck gewährt, höre ich in der Regel sehr genau hin, was er gerade hört. Ich versuche das nicht übermässig lange zu halten - viele Jugendliche hören ja häufig nur gerade die ersten Takte eines Stücks, bevor sie ungeduldig zum nächsten wechseln - möchte aber doch genau hören, wie die Klangwelt geartet ist, die sich der Jugendliche gerade zu Gemüte führt. D.h. ich muss einiges über die Beschaffenheit dieser Klangwelt erfassen, z.B. die rhythmische Struktur, die Harmonik, das Arrangement, die Melodik, vielleicht auch das Textgenre. Ich versuche mir dabei zu vergegenwärtigen, welche Stimmung die Musik in mir weckt.

Dann gebe ich das Earphone zurück und würdige das Gehörte. Auch das ist ein Schritt, der in aller Authentizität und mit allem Respekt zu erfolgen hat. Ich muss auf dieser Stufe zu schätzen wissen, dass mich der Jugendliche an seinem Erleben teilhaben lässt. Unabhängig davon, ob das Gehörte nun Helene Fischer, Eminem oder 21 Pilots sei.

Wenn das Gehörte gewürdigt ist, kann ich möglichst nebensächlich fragen, ob der Jugendliche etwas Ähnliches selber produzieren möchte. Ich brauche nicht sofort eine Antwort. Ich kann den Jugendlichen auch mit der Frage alleine lassen. Aber ich erhoffe mir mit der Frage eine zumindest leichte Irritation beim Jugendlichen darüber, dass das möglich sei. «Etwas Ähnliches? Ich?»

Wenn sich der Jugendliche bereit erklärt, eine solche Produktion zu versuchen, ist das eine weitere wichtige Einwilligung zu Triple-R und der Prozess kann seinen Lauf nehmen.

5.1 Setting

Ich arbeite im Einzelsetting. Versuche im Gruppensetting haben gezeigt, dass gerade dissoziale Jugendliche dies als Plattform benutzen, ihre Störung zu inszenieren, und weniger bei sich selber bleiben. Auch treten beim Produktionsprozess im Einzelsetting intimere Inhalte zutage, was dem Ganzen förderlich ist.

Es mag manchmal gerade noch hinkommen, dass der engste Vertraute des Jugendlichen an einem bestimmten Punkt der Produktion ein sogenanntes Feature beiträgt, d.h. ein paar Zeilen beisteuert. In der Regel sind dies aber nicht die produktivsten Aufnahmesessions, was die Auseinandersetzung mit dem Jugendlichen betrifft, weshalb es Sinn macht, einen solchen Eingriff sehr behutsam vorzunehmen.

5.2 Frequenz

Meistens arbeite ich mit einem Zeitbudget von einer Stunde pro Woche. Einerseits scheint mir eine Stunde ein gutes Mass zu sein, um sich vertiefen zu können, ohne zu überfordern. Andererseits braucht der Jugendliche dann auch eine gewisse Zeit, um sich das Erarbeitete anzuhören und eine Haltung dazu zu entwickeln. Manchmal möchte er eine Woche später alles Bisherige ändern, manchmal hat er Vertrauen gefasst und möchte auf dem Bisherigen aufbauen.

5.3 Räumliche Voraussetzungen

Ich benötige für das Projekt Triple-R einen separaten Raum, in dem ich die Digitale Audio Workstation und alle anderen nötigen Utensilien (Mikrophone, Instrumente) stehen lassen kann, damit sie jederzeit zur Verfügung stehen. An diesen Raum sind keine besonderen Anforderungen gestellt. In der Modellstation SOMOSA befindet sich der Aufnahmeraum im ersten Untergeschoss. Er ist halbseitig mit Schalldämmung ausgekleidet und verfügt über ein Kellerfenster mit Lichtschacht. Der Arbeitsplatz des Produzenten (Therapeuten) befindet sich ohne akustische Trennung im selben Raum.

Diese Anordnung ist an viele zeitgenössische Tonstudios angelehnt, die seit der Digitalisierung der Audio-Industrie und dem allgemeinen Preiszerfall in dieser Branche das Geschäft dominieren. Keine teuren akustisch getrennten Bauten mehr, sondern ein umgängliches Beieinandersein.

5.4 Equipment

Ich könnte Triple-R wie oben dargelegt mit einem Smartphone betreiben. Aus Gründen der Arbeitsplatz-Ergonomie tue ich das aber nicht. Ich habe mir einen ausgedienten PC der Klinik besorgt und darauf eine günstige Digitale Audio Workstation installiert. Es spielt dabei kaum eine Rolle, welche Marke diese Digitale Audio Workstation trägt. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, dass sie sich flink bedienen lässt und zeitig zu beeindruckenden Resultaten führt, die klanglich gar nicht so feingliedrig zu sein brauchen.

Es ist wichtig, dass ich mit der Anlage schnell arbeiten kann, damit der Interessensstrang des Jugendlichen nicht abreisst.

Es steht ferner eine ganze Reihe verschiedener virtueller Instrumente zur Verfügung. Klangeffekte sind schnell hinzugefügt, digitales Editieren ist intuitiv und flott bewerkstelligt. Zu sehr ins Detail braucht man gar nicht gehen zu können.

Neben dieser Aufnahmeeinrichtung stehen noch einige nicht-virtuelle Instrumente zur Verfügung (Schlagzeug, E-Bass, E-Gitarre, Cachon) für den eher selteneren Fall, dass ein Jugendlicher tatsächlich live einspielen will (vgl. Fallbeispiel «Luca»). Das ist Luxus und weniger das Produkt einer gezielten Anschaffung denn einer gründlichen Durchforstung der Kellerräume.

5.5 Nachbearbeitung

Die Arbeit mit einer Digitalen Audio Workstation ermöglicht bei jedem Prozessschritt eine digitale Nachbearbeitung. Jeder Impuls, den der Jugendliche zu einer Produktion beisteuert, sei es mittels eines virtuellen Instrumentes oder eines nicht-virtuellen, ist in Lautstärke, Tonhöhe, Klangqualität, Länge und Dichte im Nachhinein frei gestaltbar.

Das hat den Vorteil, dass der Jugendliche keinerlei musikalischer Kenntnisse bedarf, um seiner favorisierten Klangwelt nachzueifern. Der Jugendliche kann noch so unpräzise dem nachempfinden, was er sich wünscht, der Produzent (Therapeut) kann es - sofern er das nachempfinden kann - am Bildschirm mit wenigen Mausklicks zu dem machen, was der Jugendliche sich gewünscht hat.

So können frei gespielte Rhythmen auf ein Raster gelegt werden, als hätte der Jugendliche sie ganz präzise gespielt. Und Gesungenes kann beispielsweise nachträglich «gestimmt» werden, als hätte der Interpret die gewünschten Töne haargenau getroffen.

Wichtig ist dabei nicht, dass eine einwandfreie und hitparadentaugliche Musik entsteht. Wichtig ist, dass der Jugendliche ohne grosse Vorkenntnisse seinem inneren Klangbild (dem, mit dem er sich identifiziert) möglichst nahe kommt, damit ihm das Klangbild (der Soundtrack) eben wichtig wird, damit er sich damit identifizieren kann.

5.6 Einverständniserklärung

Jeder Jugendliche unterzeichnet mir im Laufe der Arbeit eine Einverständniserklärung, mit der er zum Ausdruck bringt, dass er damit einverstanden ist, dass Tonaufnahmen von ihm und seinem Werk hergestellt und in unserer Klinik gespeichert werden dürfen. Die Einverständniserklärung lasse ich meistens auch von den Eltern mitunterzeichnen, sofern sie verfügbar sind, damit die Aufnahmen auch da zum Thema werden können.

Verweigert der Jugendliche die Unterzeichnung einer Einverständniserklärung, darf ich ihn nicht aufnehmen und muss allfällige bis dahin hergestellte Aufzeichnungen löschen.

Selbstverständlich ist diese Einverständniserklärung, wie eine Schweigepflichtentbindungserklärung, Gegenstand therapeutischer Auseinandersetzung.

5.7 Verbreitung

Jeder Jugendliche erhält zuletzt einen Mix seiner Songs als mp3-Datei per E-Mail oder per WhatsApp zugestellt. Die Verbreitung seiner musikalischen Produktionen liegt gänzlich bei ihm. Wenn er Klicks sammeln möchte, stellt er seine Songs auf YouTube und schickt seinen Freunden einen Link.

Vielen Jugendlichen sind die Produktionen aber zu persönlich, zu intim, zu intensiv, sodass sie davon absehen, diese zu veröffentlichen. Sie behalten sie für sich oder zeigen sie allenfalls der Freundin.

Der Therapeut geht mit dem Songmaterial um wie mit allem anderen therapeutischen Material: es untersteht der Schweigepflicht und er darf es nicht einmal innerhalb der Institution ohne Einwilligung des Jugendlichen weitergeben.

Zuweilen erklärt sich der Jugendliche bereit, sein Werk z. B. anlässlich der Weihnachtsfeier vor dem gesamten Haus vorspielen zu lassen. Das beschert ihm in der Regel viel Respekt und warmherzigen Applaus.

5.8 Behandlungsdauer

Die Behandlungsdauer schwankt zwischen vier Wochen und sechs Monaten. Oftmals erübrigt sich Triple-R, wenn der Jugendliche therapeutisch erreichbar geworden ist. Das ist der Fall, wenn wir über einen musikalischen und schöpferischen Prozess in einen Diskurs gelangt sind, wenn der Übergang von einem Status jenseits der Sprache zu einem diesseits der Sprache vollzogen werden konnte.

Unsere Klientel verbringt im Durchschnitt 9.6 Monate im stationären Setting. Sollte der Jugendliche mittels Triple-R therapeutisch erreicht worden sein, steht ihm natürlich die Möglichkeit offen, weiterhin Songs zu produzieren, auch wenn das dann nicht mehr primär zum Ziel hat, ihn zu aktivieren. Hat der Jugendliche aber keine Lust mehr, die musikalische Tätigkeit weiterzuführen, sobald er ins Behandlungssetting eingestiegen ist, kann Triple-R auch abgeschlossen werden.

5.9 Abschluss

Jeder Jugendliche gestaltet seinen eigenen Abschluss mit Triple-R individuell. Bei einigen Jugendlichen erlischt der Wunsch, musikalisch zu arbeiten, sobald sie verbal erreicht worden sind. Bei anderen dauert das Interesse an, auch wenn sie verbal erreicht worden sind. Bei einigen Jugendlichen entspricht das Austrittsdatum (nach durchschnittlich 9.6 Monaten) dem Abschluss von Triple-R. Einige von ihnen schliessen mit dem Austritt auch die musikalische Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Innern ab. Andere ziehen diese weiter.

Ein Jugendlicher besorgte sich beispielsweise ein Mikrophon und eine kostengünstige Digitale Audio Workstation, damit er auch nach seinem Austritt bei uns weiter produzieren konnte. Ein anderer (s. Fallbeispiel «Phil») schloss die Aufnahmetätigkeit auf seine Art nie ab, denn er meldet sich noch heute regelmässig beim ehemaligen Therapeuten mit dem Wunsch nach weiteren Aufnahmen. Wiederum andere Jugendliche nehmen ihre Aufnahmedaten auf einem USB-Stick mit, damit sie später und in anderen Lebensumständen daran weiterarbeiten können.

6 Produktionsprozess

7 Fallbeispiele

7.1 Phil

Phil erlebte als 16-jähriger eine psychotische Episode, die eingesetzt hatte, nachdem ihm sein Handy aus dem zweiten Stockwerk in den Schnee gefallen und es dadurch irreparabel defekt geworden war. Auf dem Handy war all seine Musik gespeichert gewesen, eigene und andere. Phil hatte gerne gerappt und darin eine gewisse Fertigkeit entwickelt.

Beim Eintritt vermag er in keinem Bereich des therapeutischen Angebots so richtig einzusteigen. Er entweicht oft und konsumiert häufig Cannabis. Gleichzeitig meldet er Interesse an Tonaufnahmen an. Er erhält einen Aufnahmetermin. Zum Zeitpunkt dieses ersten Aufnahmetermins ist er allerdings derart bekifft, dass er nur gerade auf einem Stuhl sitzen und gegen die Wand starren kann. «Ich pögg's nöd», murmelt er.

Phil kriegt weder Beat noch Rap hin. Ob er morgen wiederkommen dürfe, fragt er. Der Therapeut antwortet, Phil dürfe gerne wiederkommen, wenn er eine Weile nüchtern gewesen sei. Vorher habe es keinen Sinn. Phil scheint über diesen Entscheid enttäuscht, bettelt beim Therapeuten um Nachsicht. Der Therapeut fährt die Aufnahmeanlage herunter und bleibt bei seinem Entscheid.

Phil setzt in den nächsten Tagen in Umlauf, er habe seine Rappertätigkeit an den Nagel gehängt. Der Therapeut sei schuld daran, da dieser ihn nicht weitermachen lasse. Einige Wochen vergehen, die Phil dem Cannabiskonsum zu widmen scheint. Der Cannabiskonsum ist auf der Wohngruppe wie in der Werkstatt zentrales Thema. Phil wirkt verlangsamt und nicht bei der Sache.

Nach zwei Monaten erscheint ein ausgeschlafener Phil mit einigen Textblättern in der Hand. Er sei jetzt seit einer Woche cannabisfrei und wolle einen Aufnahmetermin. Phil erhält fortan wöchentlich Aufnahmetermine und produziert jeweils in ungefähr 50 Minuten einen Song. Er probiert verschiedene Tempi aus, variiert seine Stimme, interpretiert Texte, die seine Herkunft und seine Suchtproblematik thematisieren.

Es gibt im Laufe seines stationären Aufenthaltes noch einige schwierige Situationen (Entweichungen, Konsum, eine weitere psychotische Episode), aber die Steigerung der Kontrolle über sein Konsumverhalten ist für ihn klar gesetzt.

Als Phil nach ¾ Jahren regulär in eine Nachfolgeinstitution übertritt, wird die therapeutische Behandlung regulär abgeschlossen. Phil fragt den Therapeuten nach einer Fortsetzung der Aufnahmetätigkeit. Der Therapeut lässt sich dazu überreden, mit Phil einmalig weiterzuproduzieren, sobald Phil die Probezeit in der Folgeinstitution bestanden habe.

Nach bestandener Probezeit meldet sich Phil umgehend per Mail beim nunmehr ehemaligen Therapeuten und schickt einige Tonskizzen mit, die er aufnehmen wolle. Zu der vereinbarten Aufnahmesession (die nun beim ehemaligen Therapeuten im Tonstudio und nicht mehr in der ehemaligen Institution stattfinden muss) erscheint Phil in Begleitung seiner Freundin. Er rappe ihr täglich vor, erklärt Phil, sie störe nicht.

Die Aufnahmen gelingen gut, Phil wirkt ausgeruht und nüchtern. Zwar ist er vom Tonstudio des ehemaligen Therapeuten klanglich etwas enttäuscht, das Tonstudio in der ehemaligen Institution habe mehr Bässe gehabt, aber er kann hinnehmen, dass Aufnahmen in der ehemaligen Institution (als Ausgetretener) nicht mehr möglich sind.

Erneut will Phil einen weiteren Aufnahmetermin vereinbaren. Seine Freundin schlägt vor, es doch wieder an einen erfolgreich bewältigten Abschnitt seiner Ausbildung zu knüpfen: Wenn er im kommenden Sommer das Vorjahr zu seiner beruflichen Ausbildung erfolgreich bestanden habe, dürfe er wieder aufnehmen.

Phil lobt den Vorschlag seiner Freundin und erklärt sich einverstanden damit. Beide schauen den ehemaligen Therapeuten erwartungsvoll an. Der ehemalige Therapeut sieht sich ausserstande, dem Vorschlag nicht zuzustimmen.



7.2 Luca

Luca war beim Eintritt in die Modellstation SOMOSA ein 15-jähriger Jugendlicher mit einer Bindungsstörung, einer Störung des Sozialverhaltens und ADHS. Emotional und körperlich war er verwahrlost. Luca hatte ausserdem langjährige Heimerfahrung und Erfahrung mit Cannabiskonsum, mit dem er zuletzt einen Rauswurf aus Heim und Schule provoziert hatte.

Aus früheren Psychotherapien ist bekannt: «Luca konnte sich in allen therapeutischen Settings nie wirklich öffnen und es konnte nicht an seinen Problemen gearbeitet werden.»

Innerhalb der ersten Wochen seines stationären Aufenthalts erscheint der Jugendliche - nach Aufforderung - meist lustlos bis widerwillig, immer wieder in bekifftem Zustand zu den Sitzungen. Sämtliche Versuche, einen Dialog entstehen zu lassen, bleiben erfolglos. Mit starrer Mimik und ernstem, durchdringendem Blick, den er unangenehm lange halten kann, blockt er ab, sobald es um ihn geht, reagiert gereizt, entgegnet auf Fragen häufig «egal» und schweigt dann. Immer wieder bittet er darum, die Stunde vorzeitig zu beenden. Auf der Wohngruppe wie im Arbeitsbereich ist er zu keinen wesentlichen Leistungen in der Lage und entweicht häufig.

Im Zuge einer mehrwöchigen Triple-R-Sequenz ist er schliesslich dafür zu gewinnen, seiner Freundin einen Song zu schreiben und diesen aufzunehmen. Luca blüht sichtlich auf. Er spielt eine elektrische Gitarre ein (dazu muss er sich einige Akkorde aneignen), programmiert ein Schlagzeug, lässt sich beim Verfassen des Texts helfen (Übersetzung ins Englische) und wird danach vor die Wahl gestellt, einen virtuellen Bass ebenfalls zu programmieren oder aber einen nicht-virtuellen E-Bass von Hand einzuspielen. Er blickt zwischen Tastatur und E-Bass hin und her und meint schliesslich nachdenklich: «E-Bass hab ich noch nie gespielt … Also soll es E-Bass sein!»

Das therapeutische Setting erlebt der Jugendliche fortan als weniger bedrohlich und drängt seither nie mehr darauf, die Stunde vorzeitig abzubrechen. Im weiteren Verlauf wirkt Luca ausgeglichener und offener, sodass erstmals Gespräche möglich sind, in denen Luca auch persönliches preisgibt. Auch auf der Wohngruppe und im Arbeitsbereich wird Luca fortan als verlässlicher und verbindlicher erlebt. Er verlässt die Institution und holt seinen Schulabschluss nach. Wie seine Freundin auf den Song reagiert hat, ist dem Autor indessen nicht bekannt.



8 Diskussion

Es geht bei Triple-R darum, einen tiefgreifenden Veränderungsprozess anzustossen - dies bei einer schwer erreichbaren Klientel mit zumeist mehreren psychiatrischen Diagnosen in einer der herausforderndsten Lebensphasen.

Triple-R nutzt Beziehungs- und Übertragungsaspekte, die mit modernen Medien verbunden sind, um auch unter schwierigen Bedingungen (Zwangskontext) und geringer Behandlungsmotivation einen Zugang zum Konfliktbereich adoleszenter Klientel zu erlangen.

Die Besserung des psychosozialen Funktionsniveaus (GAF) der Klientel unserer Institution über das gesamte Behandlungsprogramm hinweg betrug 2016 durchschnittlich 32%. Der spezifische Anteil medial-interaktiver Therapiemodule wie Triple-R ist dabei schwer zu beziffern, zumal die Module bei der am schwierigsten erreichbaren Klientengruppe zum Einsatz kommen.

Die Einbeziehung medial-interaktiver Therapiemodule wie Triple-R führt bei stationärer jugendlicher Klientel mit Mehrfachdiagnosen und geringer Behandlungsmotivation häufig (wenngleich nicht immer) zu einer Stärkung der Therapieallianz und damit zu einer Beschleunigung des Therapieprozesses und zu einer Effizienzsteigerung der Behandlung.

Literatur

Büttner, J. M. (1997). Sänger, Songs und triebhafte Rede: Rock als Erzählweise. Basel: Stroemfeld.

Erdheim, M. (1982). Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit: Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Haffa-Schmidt, U., von Moraeau, D. & Wölfl, A. (1999). Musiktherapie mit psychisch kranken Jugendlichen. Grundlagen und Praxisfelder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Waller, G., Willemse, I., Genner, S., Suter L., & Süss, D. (2016). JAMES - Jugend, Aktivitäten, Medien - Erhebung Schweiz. Zürich: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Wepfer, A. (2016). Schwere Beats und schwere Jungs: Triple-R in der stationären Psycho-therapie schwerer Adoleszenzstörungen. Vortrag gehalten am Psychoanalytischen Seminar Zürich, 03.06.16.

Wepfer, A. & Bilke-Hentsch, O. (2014). Triple-R-Therapy as a modular unit of in-patient treatment for male adolescents: Clinical application of "rhythm-rhyme--recording"-therapy. Poster presented at the World Congress of Music Therapy, Krems an der Donau, Austria.

Wepfer, A., Braun, S., Bilke-Hentsch, O. & Nielsen, M. (2016). Systematischer Einsatz interaktiver Medien in der stationären Psychotherapie schwerer Adoleszenzstörungen. Vortrag gehalten am Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho-therapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, Deutschland.

Winnicott, D. W. (1965). The Maturational Processes and the Faciliating Environment. Studies in the Theory of Emotional Development. New York : International Universities Press.